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Wohnungslos in der Pandemie

Die schwächsten Glieder der Gesellschaft werden am meisten getroffen, wenn die Herausforderungen am größten sind. Zu dieser Einschätzung kommt, wer sich die gegenwärtige Lage wohnungsloser und von Armut betroffener Menschen im Angesicht der Covid-19-Pandemie vor Augen führt:

  • Wenn „Stay home“ und räumlicher Abstand zwischen den Menschen gefordert wird, um die Ansteckungswege zu unterbrechen, können dennoch die nicht zu Hause bleiben, die keines haben.
  • Wenn der „Lockdown“ das gesellschaftliche und damit das wirtschaftliche Leben stark einschränkt, verlieren die zuerst ihre Einnahmequellen, die ohne eine tatsächlich existenzsichernde Grundsicherung auf die Hilfe anderer angewiesen sind.
  • Wenn die gesundheitliche Situation jedes einzelnen Menschen nicht nur dessen private Angelegenheit ist, sondern soziale Bedeutung bekommt, haben die am wenigsten Zuflucht, die am meisten von gesundheitlicher Härte, Mangel und Verletzlichkeit betroffen sind.
  • Wenn Bildung und soziale Teilhabe eingeschränkt werden auf private Kontakte, weil alle anderen in einer Pandemie zu gefährlich wirken, bleiben die in ihrer materiellen und sozialen Deprivation auf sich allein gestellt, denen strukturelle und institutionelle Diskriminierung schon immer den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verstellen.

Das führt zu sehr grundlegenden Überlegungen für wohnungslose und von Armut betroffene Menschen:

Setzt man sich der Gefahr aus, weiterhin draußen zu schlafen? Setzt man sich der Gefahr aus, Bußgelder zu bekommen, weil man sich draußen aufhält und der Vorwurf, andere anzustecken, im Raume steht, – zumal man sich durch die Notfallsituationen auch nicht gegen die Bußgelder wehren kann? Werde ich in der Stadt, wo ich mich gerade aufhalte, geduldet oder wird man in andere Städte oder Länder verschoben? In der Gefahr, in Konfliktsituationen zu kommen, ist man immer, besonders zur Zeit des Lockdown, weil die Aufmerksamkeit noch mehr auf die gerichtet ist, die sich nicht an die Vorschriften halten können.

Damit zeigt sich, dass Covid-19 nicht allein eine gesundheitliche Bedrohung ist. Vielmehr bringen Virus und Pandemie zum Vorschein, wie ganze Gruppen der Gesellschaft ausgegrenzt und benachteiligt werden. Mehr noch: Virus und Pandemie verschärfen die Lage derjenigen, die ohnehin in schwierigen Verhältnissen leben. Während des Lockdown wurden viele Einrichtungen, besonders die niederschwellige Hilfe, teilweise geschlossen oder nur Nothilfen konnten aufrechterhalten werden, die dem Zulauf durch den entstandenen Wohnungsverlust nicht auffangen konnten. Doch aus der Bedrohung für alle erwächst kaum strukturelle Unterstützung für alle – und gerade für jene nicht , die sie aufgrund ihrer Lebenslage am meisten nötig haben.

Für die Zukunft zu lernen, um sozialen Ausgleich und sozialen Zusammenhalt zu stärken, bedeutet daher aus unserer Sicht: Aufmerksam bleiben und unterstützen. Denn auch momentan erleben viele eine schwierige Zeit. Das wird besonders für wohnungslose Menschen eine große Herausforderung, weil sie sich fragen müssen: Was macht man? Geht man in Hotels, Kasernen oder sonstige große oder kleine Unterkünfte, falls es noch kleine Unterkünfte gibt? Wird man ordnungsrechtlich untergebracht und wie sieht die persönliche Situation aus – muss man sich ein Zimmer mit anderen teilen? Wie soll man die Zeit aushalten, besonders weil man es nicht gewohnt ist, sich in Räumen eine längere Zeit aufzuhalten und besonders nicht mit anderen Menschen? Was kann man machen, dass kein Lagerkoller entsteht? Diesen Fragen müssen sich von Armut betroffene Menschen stellen und finden dafür oft keine Lösung, die sie zufriedenstellt.

Andererseits kommt damit auch die Frage ins Spiel, wie strukturell auf die Situation geantwortet werden kann. Von Armut und Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen erfahren sich oft zwischen den Regelungen von Ordnungsrecht und Existenzsicherung. Gerade in diesem Grenzbereich agiert die Wohnungslosenhilfe – und kommt ebenfalls in eine ungekannte Lage: Tagesstätten müssen schließen, Streetwork muss eingestellt werden, Wohnraum wird noch knapper als vor dem Lockdown – und was die Kommunen oder die Träger der Wohnungslosenhilfe sinnvoll anbieten können, schält sich erst nach und nach heraus.

Die Situation kann aber auch heißen: Wenn schon die öffentliche Aufmerksamkeit für die Lage besonders gefährdeter Menschen gegeben ist, sollten nun auch Schritte eingeleitet werden, sie künftig besser zu schützen und zu unterstützen. Bedrohung von Wohnungslosen ist nichts Neues, doch nehmen sie nun neue Formen an. Der Grund dafür ist einerseits, dass im Lockdown nicht so viele Menschen unterwegs sind, um gegenseitig aufeinander acht zu geben. Andererseits werden strukturelle Benachteiligungen wie die Berechnung der Grundsicherung, deren Zustandekommen ja nach wie vor strittig ist (vgl. zuletzt die Bundestags-Drucksache Nr. 19/19431), und ihre sozial- und ordnungsrechtliche Praxis nochmals stärker fragwürdig.

Erforderlich sind also einerseits individuelle Unterstützungen, denn jede*r kann etwas tun. Ebenso sind institutionelle und strukturelle Maßnahmen nötig, die Wohnen, Gesundheit, Bildung und Teilhabe möglich machen. Dazu sind flexiblere Versorgungsformen geboten – und auch die Wohnungslosenhilfe  ist herausgefordert, ihr Angebote und Maßnahmen grundsätzlich zu überdenken:

  • weniger mit der Versorgungslogik der Dienste und Einrichtungen,
  • weniger mit der ordnungsrechtlichen Logik der kommunalen Träger,
  • eher z.B. in den sozialräumlichen Netzwerken der Menschen und deren oft eigener Logik.

Es bedarf der politischen und der zivilgesellschaftlichen Reflexion darauf, wie Solidarität und sozialer Zusammenhalt aller möglich werden, und es bedarf einer neuen Selbstverständigung Sozialer Arbeit. Vor allem aber müssen alle Menschen über ein Mindestmaß an Wohnen, Gesundheit, Bildung und Teilhabe verlässlich verfügen können.

Das sind Lehren „aus Corona“.

 

Für weitere Informationen: http://www.wohnungslosentreffen.de/berlin-10-punkte-nothilfeplan.html

 

Zitiervorschlag: Schneider, Jürgen & Böhmer, Anselm (2020): Wohnungslos in der Pandemie. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34209

 

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