Die Corona-Pandemie und ihre Folgen wirken auf die Soziale Arbeit wie ein Brennglas. Bestehende Verwerfungen innerhalb der Sozialen Arbeit – wie schlechte Ausstattung, zu wenig Personal und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung – werden (noch) sichtbarer und verschärfen die Arbeitssituation für die Beschäftigten massiv. Im Ergebnis zeigen sich vielfältige Deprofessionalisierungstendenzen. Vorliegender Beitrag reflektiert diese aktuellen Entwicklungen in der Sozialen Arbeit aus einer handlungstheoretisch begründeten Perspektive der Professionsforschung (vgl. Schütze 1996).
Eine quantitative Untersuchung zur Arbeitssituation der bundesdeutschen Sozialarbeiter*innen im Lockdown zeigt erhebliche Veränderungen bei Mandat, Lizenz und professionellen Standards (vgl. Meyer & Buschle 2020; Buschle & Meyer 2020): Hier sind insbesondere die Methoden und Medien des professionellen Handelns betroffen, die zwar stets in Veränderung sind – im Lockdown aber aufgrund von Verordnungen und nicht eines innerberuflichen Diskurses zur Aushandlung neuer Standards. Gerade, weil sich dieser Wandel professioneller Handlungen nicht auf Basis von Wissen aus der Sozialen Arbeit vollzieht, sind die Gefährdungen der Professionalisierungserfolge hoch. „Vielmehr werden Argumente aus anderen Sinnbereichen (Ökonomie: Arbeitszeit, Medizin: Schließung von Einrichtungen der Wohnungslosen zum Schutz der Mitarbeitenden) entlehnt und […] auf die Soziale Arbeit angewendet“ (Buschle & Meyer 2020).
Ein anderes Beispiel für die schleichende Verschiebung von Standards ist die Aussetzung des Kinderförderungsgesetzes in Hessen und anderen Bundesländern. Somit entfällt der bisher gültige Fachkräfteschlüssel und Gruppen dürften zusammengelegt werden. Es ist da weder überraschend noch unbegründet, dass sich die Beschäftigten vor klammheimlich eingeführten neuen Standards fürchten, die zumeist von den Institutionen aufgrund von Hygieneverordnungen geschaffen wurden. Hier übernehmen die Institutionen also zunehmend einen Zuständigkeits- und Machtbereich, der mit Blick auf Methoden und Medien bisher eher im Zuständigkeitsbereich der Berufskultur lag. Besonders weil die Beschäftigten um die Unmöglichkeit der Einhaltung dieser Hygienestandards wissen: Weder in Kindertagesstätten noch in Wohngruppen lassen sich die Abstandsregeln o. ä. einhalten. Weder sind die räumlichen Möglichkeiten dazu gegeben noch erscheint es aus pädagogischen Erwägungen sinnvoll. Gleichzeitig ist der Umgang mit diesen Paradoxien nicht mehr durch diskursive Aushandlung von Standards zwischen Professionellen möglich: Supervisionen seien zumeist abgesagt worden und auch kollegiale Beratung sei wegen Homeoffice oder anderen Kontaktbeschränkungen kaum möglich (Meyer & Buschle 2020). Darüber hinaus verstehen einige Praktiker*innen ihr konkretes Handeln offenbar eher institutionsgebunden denn als personale ‚Kunst‘. Entsprechend wurden institutionsgebundene Angebote für die Adressat*innen an den Eingängen von Kindertagesstätten, Jugendclubs oder Familienzentren angebracht, Briefe verschickt oder Videos bei YouTube hochgeladen.
Auch das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz ist aus professionstheoretischer Perspektive brandgefährlich (BMAS 2020): Statt die wichtige Funktion der Sozialen Arbeit und der ihn ihr Beschäftigten für die soziale Stabilität von Menschen und damit der Gesellschaft anzuerkennen, können Beschäftigte von Träger*innen unter diesem „Rettungsschirm“ zum Ernteeinsatz oder dem Füllen von Supermarktregalen herangezogen werden. Hier wäre doch auch möglich gewesen, dass Beschäftigte an Träger*innen aus anderen Bereichen der Sozialen Arbeit „ausgeliehen“ werden? Immerhin sind in zahlreichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit mit dem Lockdown die Ehrenamtlichen weggebrochen und gleichzeitig versuchten die Beschäftigten, ihr Angebot aufrechtzuerhalten. Möglicherweise scheint hier die Perspektive der Bundesregierung auf Soziale Arbeit durch.
Auf der Mesoebene zeigt sich denn auch, wie wenig Soziale Arbeit wirklich wert ist: Zahlreichen Sozialministerien ist der gesellschaftliche Auftrag Sozialer Arbeit offenbar so unbekannt, dass die Beschäftigten in den Handlungsfeldern überhaupt nicht (z. B. die Wohnungslosenhilfe in zahlreichen Bundesländern) oder extrem spät „systemrelevant“ wurden. In Hessen waren davon etwa die Mitarbeiter*innen der Jugendämter – immerhin mit dem Wächteramt des Staates betraut – betroffen, die kurz vor Ende des Lockdowns „systemrelevant“ wurden. Insofern geht es hier um Grundfragen des gesellschaftlichen Auftrags (Kinderschutz) und nicht nur um eine Anerkennungsdebatte. Eine von außen kommende Aktualisierung des Auftrags – gleichsam eine Verordnung über die ‚richtigen‘ Handlungsvollzüge Sozialer Arbeit – unterminiert langfristig die Professionalität der Handelnden und gefährdet letztlich die krisenhaften Lebensverläufe der Adressat*innen weiter.
Literatur:
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2020). Antworten zum Sozialdienstleister-Einsatzgesetz. https://www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Informationen-Corona/Fragen-und-Antworten/Fragen-und-Anworten-sozialdienstleister-einsatzgesetz/faq-sozialdienstleister-einsatzgesetz.html. Zugegriffen: 10. Juni 2020.
Buschle, C. & Meyer, N. (2020). Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-Pandemie. Soziale Passagen (1). doi:10.1007/s12592-020-00347-0.
Meyer, N. & Buschle, C. (2020). Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie: Zwischen Überforderung und Marginalisierung. Empirische Trends und professionstheoretische Analysen zur Arbeitssituation im Lockdown. Erfurt: IUBH Internationale Hochschule.
Schütze, F. (1992). Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In B. Dewe, W. Ferchhoff & F.-O. Radtke (Hrsg.), Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern (S. 132–170). Opladen: Leske u. Budrich.
Zitiervorschlag: Meyer, Nikolaus (2020): Verwerfung in der Sozialen Arbeit – Corona als Auslöser? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33920
Professor*in für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda.
Arbeitsschwerpunkte: Professionstheorie, komparative Berufsgruppenforschung sowie Wohnungslosigkeit.
Kontakt: nikolaus.meyer@sw.hs-fulda.de