In Zeiten der Corona-Pandemie werden familiale Realitäten sichtbar. Mit den politischen Maßnahmen der vergangenen Wochen und Monate wird offensichtlich, dass und wie gesellschaftlich auf Familie ‚gesetzt‘ wird. Von Familie wird eine Re-Organisation von Erziehungs-, Sorge- und Reproduktionsarbeiten realisiert bzw. sie wird ihnen auch abverlangt. Denn verbunden mit der Schließung von Institutionen der öffentlichen Erziehung, Bildung und Sorge werden unterschiedlichste Anforderungen in die Privatheit verschoben und Familien stehen vor der Herausforderung, ihre Verwiesenheit auf eine funktionierende öffentliche Infrastruktur in einen veränderten Modus der individualisierten Alltagsgestaltung zu übersetzen. Mit diesem „verordneten Rückzug ins Private“ (Speck 2020: 135) wird eine elterliche bzw. vor allem mütterliche Responsibilisierung beobachtbar, die seither als gesellschaftliche ‚Re-Traditionalisierung‘ von Familialität öffentlich verhandelt wird (siehe etwa Gastbeitrag von Jutta Allmendinger in DIE ZEIT online vom 12. Mai 2020). Und in der Tat deutet auch einiges darauf hin, dass eine zwischenzeitlich vermehrt ‚de-familialisierte‘ Alltagsstruktur in eine erneut ‚re-familialisierte‘ rückübersetzt wird und zwar im Sinne einer traditionell ausgerichteten geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung, die sich gerade auch im Zuge des ‚Lockdown‘ eingestellt hat. Während sich egalitäre Konstellationen offensichtlich in Krisenzeiten als weniger tragfähig erweisen, erfährt die in einer marxistischen Geschlechterforschung ausgearbeitete Figur der ‚heimlichen Ressource‘ Frau offensichtlich an Aktualität. Erste Forschungen können zeigen, dass die Erziehungs-, Sorge- und Reproduktionsarbeiten vor allem in die Hauptverantwortung von Frauen und Müttern fallen. Gerade im Lockdown nehmen die anfallenden Arbeiten wie Einkaufen, Kochen, Aufräumen etc. deutlich zu, da alle immer zu Hause sind. Frauen und Mütter übernehmen dazuhin mehrheitlich das ‚Homeschooling‘ ihrer Kinder. Auch stellen sie die eigene Erwerbstätigkeit eher zurück, verschieben sie in die Abendstunden oder verringern den Umfang ihrer Erwerbstätigkeit (Speck 2020: 138).
Diese Beobachtungen stützen die Annahme einer gesellschaftlichen ‚Re-Traditionalisierung‘ wie sie eben prominent von Jutta Allmendinger formuliert wird. Und dennoch lässt sich danach fragen, welche Konsequenzen sich aus den bisherigen Beobachtungen ergeben und ob von einem ‚Rückfall‘ in ‚alte Muster‘ der 1950er Jahre ohne Weiteres auszugehen ist.
Die Ökonomin Michèle Tertilt kommt auf der Grundlage ihrer Untersuchung zu etwas anderen Einsichten. Sie sieht Möglichkeiten, dass die Corona-Krise gesellschaftliche Transformationen, vor allem auch mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit, weiter voranbringen kann. Denn es zeigten sich gegenwärtig auch Verschiebungen in der Übernahme von Verantwortlichkeiten. Gerade Frauen bzw. Mütter, die in so genannten ‚systemrelevanten‘ Berufen im Dienstleistungs- und Gesundheitswesen wie im Bildungs- und Erziehungswesen tätig sind, werden aktuell zu ‚Haupternährerinnen‘ in Familien, während Männer bzw. Väter angesichts zum Beispiel von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit in ‚krisenanfälligeren‘ Branchen Erziehungs-, Care- und Reproduktionstätigkeiten in Vollzeit zu Hause übernehmen. Dass Männer bzw. Väter mehr bzw. anteilig Carearbeit leisten, zeigt sich auch, wenn beide sich im ‚Homeoffice‘ befinden und diese Erfahrung, so Tertilt, eröffne auch auf längere Sicht Veränderungen in der häuslichen Arbeitsteilung. ‚Homeoffice‘ werde in der gegenwärtigen Krise „hoffähig“, wovon gerade Mütter, aber auch Väter profitierten. Tertilt prognostiziert vor dem Hintergrund ihrer Untersuchung: „Es wird mehr moderne Paare geben als bisher“ (DER FREITAG vom 04.06.2020).
Sarah Speck und ihr Team argumentieren nochmals etwas anders und betonen auf Basis ihrer geschlechtersoziologisch angelegten Studie zur ‚Neuordnung des Privaten in Zeiten von Corona‘, dass sich der familiale Alltag und die Realisierung von Care-Arbeit in einem hohen Maße different darstellt und zwischen Tätigkeiten im Homeoffice eines zumeist akademisierten, mittleren Milieus gegenüber Tätigkeiten in ‚systemrelevanten‘ Berufen wie in der Pflege und im Einzelhandel zu unterscheiden ist. Gerade mit Blick auf die Sicherstellung von Kinderbetreuung zeigen sich unterschiedliche Anforderungen, Belastungen und auch Bedingungen. Bezogen auf die Situation im ‚Homeoffice‘ kommen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass der Zugewinn durch das Arbeiten zu Hause und die damit einhergehenden Möglichkeiten der ‚Vereinbarkeit‘ aus Familienleben und Erwerbsarbeit für Mütter (aber auch für Väter) zugleich auch entlang „neuer Formen der Arbeitskraftnutzung“ (Speck 2020: 140) in ihrer Ambivalenz zu betrachten sind. Demnach ist vor allem auch nach neuen Ausbeutungsstrukturen und Prozessen der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen zu fragen. Die Neuordnung des Privaten in Zeiten der Corona-Pandemie ist mit Speck und Kolleg*innen insofern geschlechtertheoretisch und intersektional zu reflektieren (ebd.). Anderenfalls werden – so könnte abschließend festgehalten werden – (neue) Ungleichheiten familialer Realitäten keineswegs sichtbar und (neue) Möglichkeiten der Gestaltung von Familialität bleiben unsichtbar.
Literatur
Allmendinger, Jutta (2020): Die Frauen verlieren ihre Würde. DIE ZEIT online vom 12. Mai 2020. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueckentwicklung (letzter Zugriff am 01.10.2020)
Speck, Sarah (2020): Zuhause arbeiten. Eine geschlechtersoziologische Betrachtung des „Homeoffice“ im Kontext der Corona Krise. In: Volkmer, Michael/ Werner, Karin (Hrsg.): Die Corona- Gesellschaft. Bielefeld: Transcript, 135-141.
Michèle Tertilt (2020): „Es wird mehr moderne Paare geben als bisher“ (DER FREITAG vom 04.06.2020; Ausgabe 23/2020). https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/es-wird-mehr-moderne-paare-geben-als-bisher (letzter Zugriff am 01.10.2020).
Zitiervorschlag: Richter, Martina (2020): (Un-)Sichtbare familiale Realitäten in der Corona-Pandemie. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/35245
Juniorprofessor*in für Schule und Jugendhilfe an der Universität Duisburg-Essen, Institut für Erziehungswissenschaft
Arbeitsschwerpunkte: Familialität und Wohlfahrtsstaatlichkeit, Verhältnisbestimmung Schule und Jugendhilfe, Kinder als Akteur*innen von Inklusion
Kontakt: martina.richter@uni-due.de