Auf Krisenmomente in der Lebensführung ist das Programm sozialpädagogischer Beratung naturwüchsig eingestellt: strukturell durch eine thematisch ausdifferenzierte Beratungslandschaft, methodisch durch Routinen artifizieller Beratungskommunikation und der zugehörigen Weise menschlicher Begegnung, die auf Respekt gegenüber dem Lebensvollzug der Adressat*innen und dem Eröffnen eines wertschätzenden aber inhalts-, prozess- und ergebnisneutralen Kommunikationsraumes abstellen.
Die pandemische Situation hat diese Routinen professioneller Praxis gehörig durcheinandergebracht und zentrale Probleme neu in den Fokus gerückt. Fragen zu beraterischen Techniken und Methoden erstarken neu bezüglich der Notwendigkeit, sich mit Beratungskommunikation mit und in elektronischen Medien zu befassen. Aspekte der Erreichbarkeit werden nun weniger entlang der konzeptionellen Ausrichtung (z. B. als zu starke Mittelschichtorientierung), sondern hinsichtlich der notwendigen materiellen Ausstattung für die digitale Darreichungsformen von Beratung virulent.
So wird das durch Corona ausgelöste Krisenmoment für Beratung doppelt bedeutsam: Sie ist derzeit gefordert, Adressat*innen zu helfen mit pandemiebedingten Lebenskrisen zurechtzukommen. Gleichzeitig ist sie durch diese Bedingungen selbst in ihrem professionellen Handeln eingeschränkt und zu forcierter Entwicklung genötigt.
Mediatisierung von Beratung und der heimliche Primat der Kopräsenz
Im Lockdown waren viele Beratungsstellen geschlossen und haben, ähnlich wie andere soziale Dienstleistungen, erst nach und nach den Betrieb wieder aufgenommen. Der Umgang mit den pandemiebedingten Erfordernissen des Spacial bzw. Social Distancing hat dabei häufig deren Gleichsetzung mit starker Kontaktreduktion erzeugt. Das Fehlen einer routinisierten sozialpädagogischen Kultur hybrider Kommunikation führte dazu, dass Beratungsbeziehungen ausgesetzt, hastig in digitale Formen überführt oder bisweilen gar nicht aufgenommen wurden.
Aus räumlicher Distanz wurde so eine Form sozialer Distanz, deren selbstläufiges Zustandekommen die Sozialpädagogik stutzig machen sollte. Sie zeigt nämlich, dass sie sich bisher zu wenig in Theorie und Empirie mit elektronisch vermittelter, mediatisierter Kommunikation befasst hat – erfreulich ist, dass nun ein Handbuch hierzu vorliegt (Kutscher/Ley/Seelmeyer/Siller/Tillmann/Zorn 2020). Bilanzierend zeigt sich, dass zwar ein wachsendes Korpus empirischer Untersuchungen und kanonisierten Wissens bezüglich Beratung im Internet existiert und einige Träger sozialpädagogischer Beratung bereits intensive Digitalisierungsanstrengungen unternehmen. Aber erst die Pandemie hat der sozialpädagogischen Basis in der Fläche Vorhandensein und Bedeutung dieses Wissensbestandes vorgeführt – und diesen bisher überwiegend kompensatorisch verarbeitet.
Dies erscheint unter dem Brennglaseffekt der Pandemie als erklärungsbedürftige Ungleichzeitigkeit einer Sozialpädagogik, die Digitalisierungsthemen tendenziell zu medienkritisch aufnimmt und dabei einem heimlichen Primat der Kopräsenz folgt. Befunde aktueller Medienforschung lassen hingegen vermuten, dass Adressat*innen auf mehr digitalen Wegen erreichbar sind als sozialpädagogische Angebote bisher zur Verfügung stellen. Überlegungen dazu sollte die Sozialpädagogik also unabhängig von der Pandemie anstellen.
Die Beratungslandschaft als herausgeforderte Infrastruktur
Auf der Strukturebene sozialpädagogischer Beratung zeigen sich aus diesen Gründen ähnliche Herausforderungen, wie z.B. in der Schule, in der aller Digitalisierungssemantik zum Trotz im Lockdown an vielen Orten einheitliche Lernplattformen und vor allem synchrone Kommunikationsformate fehlten, Materialien umständlich per E-Mail verschickt und sich Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern im Rahmen des Homeschoolings oft allein gelassen und überlastet fühlten.
Es ist zu vermuten, dass es Professionellen und Adressat*innen sozialpädagogischer Beratung ähnlich gegangen ist: Rechtlich sichere Plattformen fehlten und ebenso das Wissen darüber, ob und wie Beratungskommunikation medial in ihrer ganzen Bandbreite möglich ist – gerade wenn andere Hilfen nicht mehr zustande kommen können.
Wissen und Können erweitern, mediatisierungssensible Professionalität entwickeln
Inwieweit ist sozialpädagogische Beratung an Kopräsenz gebunden? Was kann, unter welchen Bedingungen, auch elektronisch medial vermittelt, geschehen? Solche Fragen müssen dringend bearbeitet werden – und zwar jenseits der Pandemie. Denn es sind zentrale Fragen von Digitalisierung als Kulturwandelphänomen sozialpädagogischer Praxis. Zentrale Konzepte wie die Lebensweltorientierung oder der Bewältigungsansatz können, mediatisierungssensibel wiedergelesen, zeigen, dass mediale Praktiken längst zentraler Bestandteil menschlicher Existenz geworden sind. Der sich gerade etablierende Begriff der Kontaktlosigkeit sollte dabei nicht die neue Generalisierungsformel werden. Er birgt die Gefahr, die Defizitlogik gegenüber allen Begegnungen, die nicht kopräsent sind, fortzuführen.
In Beratungsangeboten, die mit digitalen Medien erbracht werden, fehlt nicht der Kontakt, sondern nur die unmittelbare Begegnung der Körper – wobei schon allein das Argument der Unmittelbarkeit einer genauen Analyse bedürfte. Als Heuristik denkbar ist auch ein komplexes Kontinuum, das vom kopräsenten Gegenübersitzen über zweidimensionale Kommunikation durch die Scheibe (Plexiglas, Bildschirm) bis zur dreidimensionalen Begegnung in virtuellen Räumen reicht – von zukünftigen transhumanen Herausforderungen ganz zu schweigen, in denen elektronische Schnittstellen sich auch innerhalb des Körpers befinden werden, wie die aktuelle Biohackingszene zeigt.
Diese Herausforderungen lassen sich am besten bearbeiten, wenn die Sozialpädagogik ihre bewährten Denk- und Handlungsstrukturen dauerhaft mediatisierungssensibel einrichtet: In der Lehre bedeutet dies beispielsweise, Fragen von Mediatisierung und Digitalisierung sowohl als Schwerpunktveranstaltungen anzubieten und curricular zu verankern, aber auch querschnittig an Diskurse anzuschließen und zukünftige Fachkräfte mit einer mediatisierungssensiblen Professionalität auszustatten.
Eine breit entfaltete, und sich nicht nur als Coronafeuerwehr verstehende empirische Forschung müsste hierzu die Grundlagen legen aber auch medial veränderte Beratungspraxen dauerhaft begleiten – beispielsweise, indem Fragen nach methodischem Handeln aber auch dem Raum- und Begegnungsbegriff in seinen mediatisierten Erscheinungsweisen systematischer als bisher bearbeitet werden. Gerade weil Beratung als Hilfeform zentral auf Kommunikation abstellt, sollte sie den kommunikativen Formenwandel deutlicher als bisher in ihr Theorie- und Forschungsprogramm aufnehmen.
Literatur:
Kutscher, Nadia; Ley, Thomas; Seelmeyer, Udo; Siller, Friederike; Tillmann, Angela; Zorn, Isabel (Hrsg.) (2020): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Zitiervorschlag: Weinhardt, Marc (2020): Sozialpädagogische Beratung in der pandemischen Krise. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34208
Professor*in für Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Professionalisierung, Abteilung Sozialpädagogik I der Universität Trier
Arbeitsschwerpunkte: Professionalisierungsforschung, Beratung, Digitalisierung/Mediatisierung, Lehren, Lernen und Forschen mit Simulation, qualitativen und quantitative Bildungsforschung
Kontakt: weinhardt@uni-trier.de