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SOZIALE ARBEIT IN DER SAMMELUNTERBRINGUNG UND DER CORONALOCKDOWN – AUCH EINE KRISE DER PROFESSIONALITÄT?

Als im Frühjahr 2020 zahlreiche Sammelunterkünfte für geflüchtete Menschen unter Teil- oder Vollquarantäne gestellt werden, stehen Sozialarbeiter:innen vor einem sich zuspitzenden Kontrollmandat (Täubig 2021) im Rahmen der Herausforderung eine ungewohnte Krisenlage bewältigen zu müssen. Anhand erster Auswertungen meiner ethnographischen Protokolle vom Frühjahr 2020 in einer Berliner Sammelunterkunft habe ich Entwicklungstendenzen bezüglich der Auswirkungen des ersten Lockdowns auf professionelles Handeln von Sozialarbeiter:innen rekonstruiert.

Grundsätzlich bewegen sich Sozialarbeiter:innen in Sammelunterkünften für geflüchtete Menschen in einem spannungsreichen und in vielerlei Hinsicht als krisenhaft zu betrachtendem Handlungsfeld. Dabei konstituiert es sich über zahlreiche restriktive rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen (Müller et al. 2018). Zusätzlich zu einer ohnehin stark reglementierten Lebensführung der Bewohner:innen von Sammelunterkünften, wurden im Frühjahr 2020 im Zuge des Ausbruchs der COVID19-Pandemie viele Sammelunterkünfte unter Teil- oder Vollquarantäne gestellt, da es gehäuft zu Infektionen mit SARS CoV II in den beengten Wohnverhältnissen kam (Bozorgmehr et al. 2020, RKI 2020). Diese Entwicklungen hatten auch wesentliche Auswirkungen auf Handlungs- und Positionierungsweisen des sozialpädagogischen Personals der Unterkünfte. So weisen erste quantitative Befragungen darauf hin, dass Sozialarbeiter:innen sich bei Ausbruch der COVID19-Pandemie im Frühjahr an ihrer Belastungsgrenze sehen, es wird von desolaten Zuständen sowie unwirksamen Maßnahmen und Konzepten gesprochen (DBSH 2020). Soziale Arbeit angelehnt an den Bedürfnissen der Bewohner*innen erscheint kaum möglich (Plettau 2021) und in den täglichen Arbeitsroutinen werden deutliche Deprofessionalisierungstendenzen[1] erkennbar (Meyer und Buschle 2020). Anhand der exemplarischen Analyse eines Ausschnitts meines Feldtagebuches möchte ich die Auswirkungen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 auf sozialpädagogisches Handeln analysieren und in diesem Rahmen die Frage aufwerfen inwieweit an dieser Stelle überhaupt von professionellem Handeln gesprochen werden kann. Hierfür soll das in diesem Rahmen operationalisierte Verständnis von Professionalität zunächst kurz erläutert werden.

Nach Ulrich Oevermanns (1996) strukturtheoretischem Ansatz erfolgt eine Definition von Professionalität handlungsorientiert, wonach professionelles (sozialpädagogisches) Handeln als eine stellvertretende Krisenbearbeitung und -bewältigung zu sehen ist. Gemäß Werner Helsper (2021) lässt sich von Professionalität dann sprechen, wenn Professionelle über entsprechende Voraussetzungen verfügen, bzw. wenn gesellschaftliche, organisatorische und institutionelle Rahmenbedingungen ein entsprechendes, möglichst widerspruchsfreies und belastungsarmes Handeln ermöglichen. Unter solchen Umständen können dann etwa wissenschaftliches und feldspezifisches Wissen, erfahrungsbasierte Praxis, Reflexivität, soziale Kompetenzen und Routinen der Beziehungsgestaltung, Fallverstehen und Sinnerschließung zur Geltung kommen (ebd., S. 56). Hierbei ist es jedoch auch als ein komplexes, interaktives soziales Geschehen anzusehen, das fragil und störanfällig ist und gleichzeitig selbstkritisch mit seinen Fehlerquellen und -potenzialen oder Widersprüchen umzugehen vermag (ebd.)

In den von Januar – Juni 2020 geführten ethnographischen Feldprotokollen[2] in einer Berliner Sammelunterkunft lässt sich anhand erster Auswertungen rekonstruieren, dass Unterkunftsleitung und Sozialarbeiter:innen sich in keiner Weise in einem belastungsarmen oder widerspruchsfreien Umfeld bewegen und im Rahmen des Ausbruchs der Pandemie zuvorderst unter ‚Kontrollverlustangst‘ agieren. Auch lässt sich rekonstruieren, dass bereits vor Ausbruch der Pandemie Ordnungs- und Kontrolllogik einen hohen Stellenwert einnehmen. Es ist zu beobachten, dass angesichts der unklaren Lage im Lockdown der Blick für die Fallbearbeitung verloren geht und das Personal nun überwiegend einer Sachhaltungslogik mit dem übergeordneten Ziel des Infektionsschutzes sowie der Ordnungswahrung unterliegt. Unter dem fortan dominierenden internen Infektionsschutzdiskurs müssen Begegnungsbedingungen und Beratungsangebote neu ausgelotet werden. Aufgrund einer grundlegenden und dauerhaft anhaltenden Verunsicherung[3] und in Antizipation eines Ausbruchs einer Ketteninfektion in der Unterkunft warten sie auf Weisungen, Verordnungen und Regulierungen von den zuständigen Behörden (z.B. Infektionsschutzmaßnahmen, Arbeitsschutzmaßnahmen, Regelungen zu Rahmenbedingungen der Beratung). Nachdem die behördlichen Weisungen zunächst lange auf sich warten lassen, werden sie mit zunehmender Vehemenz vom Betreuungsteam der Unterkunft eingefordert. Hierauf reagiert der Betreiber mit der Vorlage einer Art improvisiertem Notfallplan sowie neuen Hygieneregeln, die das Betreuungsteam fortan auch in Interaktion mit den Bewohner:innen durchsetzen soll. Die neuen Abstands- und Hygieneregeln werden an die Bewohner:innen herangetragen und vor allem mittels Wachschutzfirma und Polizei durchgesetzt.

Die Bewohner:innen reagieren auf die neu auferlegte – und zum Teil nur sporadisch kommunizierte – Ordnungslogik in der Unterkunft mit Rückzug, Anpassung oder Rebellion (vgl. Kattein 2021), wobei sich letztere auch in gehäuften lautstarken Auseinandersetzungen mit dem Unterkunftspersonal widerspiegelt. Zudem fällt dem Betreuungsteam eine grundsätzliche Zunahme an z.T. gewalttätigen Auseinandersetzungen auf, was auch im Rahmen einer Teamsitzung Ende März 2020 (ca. zwei Wochen nach Eintreten der ersten Lockdownregelungen) anschaulich wird:

„[…] Und dann platzt plötzlich der Wachschutz herein, mitten in die Teamsitzung. Die Heimleitung wird vom Wachschutz gerufen, es hat einen Streit mit Messerdrohung gegeben. Die beiden Heimleitungspersonen springen auf und schießen aus dem Zimmer. „Das ist in den letzten Tagen wirklich häufiger als sonst vorgekommen“, stellt Soraya* fest. „Gestern erst ist Assadi* im Büro ausgerastet und hat alle seine Unterlagen aus dem Fenster geschmissen. Einfach raus in den Hof. Was für ein Drama“. Daraufhin bringe ich ein, dass wir uns irgendwie „Beschäftigungsmöglichkeiten“ ausdenken müssten. Das Team stimmt zu. Ich werde gefragt an was ich da gedacht habe und ich sage „vielleicht irgendwas mit Kunst“? Wir sitzen da, in der unterbrochenen Teamsitzung, während wir auf die Heimleitung warten, und so richtig mag uns nichts einfallen. Ich meine aber auch so etwas wie Resignation im Raum zu spüren, irgendwie wirken alle angespannt, verunsichert, ratlos? Die Stimmung ist schwer zu greifen. Wir warten, bis jemand aus dem Heimleitungsteam zurückkommt, damit wir endlich die Teamsitzung abschließen können. (Feldtagebuch_Teil II, Pos. 22)

Hierbei mutet es zunächst irritierend an, dass ein Gewaltvorfall mit Messerdrohung in der Unterkunft vom versammelten Team kaum (noch) zur Kenntnis genommen wird, bzw. inmitten der Teamsitzung lediglich damit kommentiert wird, dass dies zuletzt ja häufiger vorkommt. Dies zeigt ein gewisses ‚Abstumpfen‘ gegenüber teils dramatischen Dynamiken in der Unterkunft, welche – auch unter diesen Umständen – nicht nur ordnungstechnischer sondern auch dringend pädagogischer Bearbeitung bedürfen würden.

Während die Unterkunftsleitung aus dem Zimmer schießt, sich also im Gegensatz zum im Raum verbleibenden Sozialteam in irgendeiner Weise zuständig fühlt, unterstreicht Kollegin Soraya* die dramatische Lage lediglich mit der Schilderung eines weiteren konflikthaften Vorkommnisses am gestrigen Tag, woraufhin von der Ethnographin/ Sozialarbeiterin[4] in den Raum geworfen wird, man müsse sich jetzt mal etwas ausdenken um die Bewohner:innen zu beschäftigen. Offensichtlich war auch der Vorfall vom Vortag nicht besprochen worden, Deutungen zum Problemverständnis und Ansätze einer Krisenlösung oder einer Reflexion der Situation scheinen auch jetzt nicht im Vordergrund zu stehen. Nachdem sich das Sozialteam kurz über Beschäftigungsmöglichkeiten der zunehmend schwerer zu handhabenden Bewohner:innen Gedanken macht, verfällt es kurz darauf wieder in Ratlosigkeit und Resignation. Die Ethnographin schildert diese resignierte Stimmung, in der es dem Team lediglich übrig bleibt die Rückkehr der Leitungspersonen abzuwarten, um ‚endlich‘ die Teamsitzung beenden zu können.

Bei Betrachtung dieses Ausschnitts aus dem Feldtagebuch fällt auf, dass das Betreuungsteam ohne die Unterkunftsleitung beinahe handlungsunfähig wirkt, was impliziert, dass ein autonomes und reflexives professionelles pädagogisches Handeln auch zu einem früheren Zeitpunkt nicht unbedingt zur geteilten Organisationsroutine in der beschriebenen Unterkunft gehört haben. Dies erschwert nun eine gemeinsame kommunikative und kooperative Handhabung der pandemischen Notlage und zeigt, dass sich rechtliche, administrative und organisationsinterne Restriktionen und Routinen in der Sammelunterkunft unter Lockdownbedingungen in vielfältiger Weise reproduzieren. Das pädagogische Personal beruft sich während der ersten Phase der Pandemie aufgrund eigener Handlungsunsicherheit in Verbindung mit mangelndem reflexivem oder kollegial geteiltem Wissen irgendwann nur noch auf administrative und organisationale Vorgaben.

Aufgrund der neuen Sachhaltungslogik und der Überordnung von Infektionsschutz und Ordnungswahrung ist auch in Interaktion mit Bewohner:innen ein zunehmend konfliktgeladenes Klima entstanden, welches zwar grundsätzlich in Sammelunterkünften vorzufinden ist (vgl. z.B. Müller et al. 2018, Muy 2018), unter Lockdownbedingungen jedoch eine besondere Zuspitzung erfährt. Durch eine zusätzliche Verstärkung des Kontrollmandats in der Institution findet offensichtlich auch eine zunehmende Empathielosigkeit gegenüber Ausdrucks- und Interaktionsweisen von Bewohner:innen Einzug.

Somit gibt es zahlreiche Hinweise auf ein überwiegend deprofessionalisiertes Handlungsgeschehen im Feld der Sozialen Arbeit in der beschriebenen Sammelunterkunft, da Handlungsvollzüge außerhalb einer professionellen (auch im kollegialen Kreis reflektierten) Autonomie stattfinden, Bewohner:innen in ihrer Lebensführung und angesichts der generellen Krisenlage heteronomisiert werden und zudem scheinbar auch zunehmend emotionale Teilnahmslosigkeit in der Unterkunft raumgreift. Eine stellvertretende Krisenlösung kann nicht stattfinden, da es keinen Raum für eine (geteilte) Krisenbearbeitung im Sinne von Fallarbeit für und mit Bewohner:innen gibt. Hieran zeigt sich auch die Fragilität professionellen Handelns als komplexe Interaktion, die auf eine relativ störungsfreie Umgebung angewiesen ist und hier durch den Lockdown massiv gestört wird. Mit Blick auf das Gesamtmaterial lässt sich als Ausblick auch hinzufügen, dass sich bei den Sozialarbeitenden relativ bald Widerstand gegen die deprofessionalisierte Lockdown-Handhabung regt und das eigene sozialarbeiterische Handeln zunehmend kritisch im kollegialen Rahmen wie in der Selbstreflexion betrachtet wird. Und dies ist zumindest ein eindeutiges Zeichen von Professionalität.

[1] Soziale Arbeit in diesem Kontext ist ohnehin häufig damit konfrontiert zur räumlichen und sozialen Ausschließung ihrer Adressat:innen beizutragen (Täubig 2021).

[2] Die ethnographische Feldstudie führte ich im Rahmen meiner empirischen Erhebungen zum Dissertationsprojekt bezüglich professionellen sozialpädagogischen Handelns in Sammelunterkünften für geflüchtete Menschen durch. Hierbei zeichnete ich Abläufe des Alltags rund um den Ausbruch der COVID19-Pandemie in der Sammelunterkunft auf. Die erste Analyse der Daten erfolgte mittels offenem Kodieren in Anlehnung an die Grounded Theory.

[3] Die Verunsicherung ist – zumindest in den ersten Tagen und Wochen des Lockdown – vor allem mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Krisenstimmung in Verbindung zu bringen und der Ungewissheit welche Auswirkungen dies auf interpersonelle Dynamiken in der Unterkunft haben kann. Hinzu kommt bei einigen Mitarbeiter:innen die Angst um die eigene Gesundheit, da Heimarbeitsalternativen nicht angeboten werden und ein Hygienekonzept lange auf sich warten lässt.

[4] Ich habe das Feld aus der Rolle einer Sozialarbeiterin heraus beforscht (lebensweltliche Ethnographie nach Anne Honer).

Literatur

Bozorgmehr, Kayvan; Hintermeier, Maren; Razum, Oliver; u. a. (2020): SARS‐CoV‐2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete : Epidemiologische und normativ‐rechtliche Aspekte, (report) Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19.

DBSH (2020): Infektionsgefahr und räumliche Enge: Online-Umfrage zeigt Sozialarbeiter*innen an der Belastungsgrenze, Berlin: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit.

Helsper, Werner (2021): Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: eine Einführung, Verlag Barbara Budrich.

Kattein, Alexandra (2021): Den Coronalockdown unterleben. Einflüsse des Infektionsschutzdiskurses auf Handlungsstrategien von Bewohner*innen einer Berliner Sammelunterkunft für flüchtende Menschen., in: Kathrin Aghamiri, Rebekka Streck, und Anne van Rießen (Hrsg.), Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie: Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen, 1. Auflage. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich (Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit), S. xx–xx.

Meyer, Nikolaus; Buschle, Christina (2020): Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie: Zwischen Überforderung und Marginalisierung. Empirische Trends und professionstheoretische Analysen zur Arbeitssituation im Lockdown, in: IUBH Discussion Papers, Jg. Sozialwissenschaften, Nr. 4, S. 1–26.

Müller, Annette; Volkmann, Ute Elisabeth; Wiedemann, Christoph (2018): Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen in Not- und Gemeinschaftsunterkünften. Professionstheoretische Überlegungen und handlungsleitende Prämissen, in: Beate Blank, Süleyman Gögercin, Karin Sauer, u. a. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft: Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder, Wiesbaden: Springer VS, S. 563–574.

Muy, Sebastian (2018): Über Widersprüche Sozialer Arbeit in Sammelunterkünften für Asylsuchende, in: Johannes Stehr, Roland Anhorn, und Kerstin Rathgeb (Hrsg.), Konflikt als Verhältnis – Konflikt als Verhalten – Konflikt als Widerstand: Widersprüche der Gestaltung Sozialer Arbeit zwischen Alltag und Institution, Wiesbaden: Springer VS (Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit), S. 155–167.

Oevermann, Ulrich (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Arno Combe und Werner Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität: Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70–182.

Plettau, Nicole (2021): Profilbericht – Forderungen konkret! Soziale Arbeit in Sammelunterkünften, dauerhaft-systemrelvant.de, [online]  [29.07.2021].

Robert Koch Institut (2020): Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland., ( Nr. 38) Berlin (Epidemiologisches Bulletin).

Täubig, Vicki (2021): Flüchtlingssozialarbeit und soziale Ausschließung, in: Roland Anhorn und Johannes Stehr (Hrsg.), Handbuch soziale Ausschlieung und soziale Arbeit, Place of publication not identified: VS Verlag FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN (Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit), S. 1025–1042.

Zitiervorschlag: Kattein, Alexandra (2021): Soziale Arbeit in der Sammelunterbringung und der Coronalockdown – auch eine Krise der Professionalität? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/41398)

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