Bereits vor der Corona-Pandemie deuteten Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfestatistik darauf hin, „dass vor allem die einrichtungsbezogenen Angebote der Kinder- und Jugendarbeit eine knappe Ressource sind, die sich viele junge Menschen teilen müssen und die nur zu stark eingeschränkten Zeiten zur Verfügung steht“ (Rauschenbach et al. 2019, S. 115). Dies hat sich durch die Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie und ihre Folgen noch einmal erheblich verstärkt. Heranwachsenden ist es nun noch schwieriger, einen für sie relevanten Raum der „Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Sozialen gleichermaßen“ (Böhnisch 1998, S. 35) zu nutzen. Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit reagieren auf diese Entwicklung, indem sie Arbeitsansätze und Methoden aus angrenzenden Arbeitsbereichen in die eigenen Konzepte integrieren und beeindruckend viele digitale Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten schaffen.
Letzteres stellt für die Kinder- und Jugendarbeit bei weitem kein neues Phänomen dar (vgl. Röll 2020; Bollig 2020). An vielen Stellen, zum Beispiel in der sozialen Gruppenarbeit mit einer größeren Anzahl an Adressat*innen, müssen virtuelle Angebote nun jedoch analoge Begegnungs- und Erfahrungsräume ersetzen, anstatt sie zu ergänzen. Daher richten Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit nun verstärkt auf Plattformen wie Discord eigene Server und Kanäle ein und verbinden somit Gaming und Begegnung. Sie gehen auf Social Media Plattformen live und ermöglichen damit niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten. Neben diesen Onlineangeboten, die trotz ihrer Digitalität der etablierten Komm-Struktur stationärer Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit verhaftet bleiben, implementieren Jugendarbeiter*innen auch virtuell-aufsuchende Ansätze der Mobilen Jugend(-sozial-)arbeit (vgl. Bollig 2020, S. 468). Sie begeben sich gezielt in virtuelle Räume, in denen junge Menschen bisher weitgehend unter sich waren. Auf diese Weise erhalten Jugendarbeiter*innen zwar tiefe Einblicke in die (digitale) Lebenswelt ihrer Adressat*innen, jedoch ohne deren Zustimmung (vgl. Bollig 2020, S. 474) und oft auch ohne deren Wissen. Das Netz als wichtiger Teil peerkultureller Praktiken (vgl. Grunert und Krüger 2020, S. 708) wird damit auch pädagogisch rearrangiert. Weitgehend selbstbestimmte, informelle Aushandlungs- und Aneignungsprozesse unter Peers werden verhindert.
Darüber hinaus konzeptualisiert sich die Kinder- und Jugendarbeit derzeit auch analog neu. Können junge Menschen Jugendhäuser nur noch in geringer Anzahl und stark reglementiert nutzen, begeben sich Jugendarbeiter*innen eben zu ihnen. Sie sind verstärkt aufsuchend im Stadtteil unterwegs und treten auch dort mit Jugendlichen in Kontakt, die sich entgegen aller Verordnungen im öffentlichen Raum treffen. Die Grenze zur Mobilen Jugend(-sozial-)arbeit verschwimmt damit weiter, mitunter entstehen Konkurrenzen zwischen Akteur*innen der beiden Arbeitsbereiche. Zudem geraten nun auch junge Menschen in den Blick, die sonst nicht von stationären Angeboten erreicht werden (wollen). Informelle Treffpunkte werden zu Orten von Beratung und der „fürsorglichen Kontrolle“ (vgl. Bollig 2020, S. 474), der sich junge Menschen angesichts eines pandemiebedingten Mangels an alternativen Treffpunkten nur schwer entziehen können.
Verstärkt tritt die Kinder- und Jugendarbeit auch an der Grenze zur Schule auf und unterstützt, nicht selten in Kooperation mit Schulsozialarbeit, bei Problemen mit Schule und Familie. Durch pandemiebedingte Formen des Homeschoolings, des hybriden Unterrichts und Phasen des Selbstlernens sehen sich Jugendarbeiter*innen jedoch auch veranlasst vermehrt Funktionen der schulischen Bildung, in Form von Nachhilfe, Hausaufgabenbetreuung und Unterstützung beim Selbstlernen zu übernehmen. Damit besteht jedoch die Gefahr, die „strukturierte Offenheit“ (Thiersch 1993) der Kinder- und Jugendarbeit und ihren Fokus auf die Subjekt- und Demokratiebildung zugunsten einer Monofunktionalisierung auf schulische Bildung aufzugeben.
Die Entwicklungen lassen sich nicht auf Corona zurückführen (zur Digitalisierung siehe z.B. Röll 2020, zur Implementierung des mobilen Ansatzes siehe z.B. Deinet und Krisch 2013, zur Kooperation mit Schule siehe z.B. Deinet und Icking 2020), beschleunigen sich jedoch pandemiebedingt und lassen nur wenig Zeit für ein reflexives Vorgehen. Befeuert wird dies durch vielfach auf kommunalpolitischer Ebene aufkommende Diskussionen hinsichtlich zukünftiger coronabedingter Sparmaßnahmen im Feld der Kinder- und Jugendarbeit. „Die Jugendarbeit muss sich warm anziehen“, ist nur ein O-Ton aus deutschen Kommunen und verdeutlicht doch den Legitimitätsdruck, unter dem die Kinder- und Jugendarbeit abermals steht.
Gerade vor dem Hintergrund dieses Legitimitätsdrucks ist es jedoch umso wichtiger, sowohl jugend- und kindheitspolitische, als auch sozialpädagogische Grundorientierungen nicht aus dem Blick zu verlieren (vgl. Schröer 2020, S. 246) und Potenziale wie Grenzen der Kinder- und Jugendarbeit im Hinblick auf ihre Adressat*innen, die Beziehung zu ihnen und zu angrenzenden Arbeitsfeldern reflexiv zu betrachten. Im Hinblick auf eine sich rasant neu konstituierende Kinder- und Jugendarbeit ist daher zu fragen, wie während und nach der Pandemie die Perspektiven junger Menschen (wieder) berücksichtigt, ihnen soziale und politische Teilhabe ermöglicht und Möglichkeitsräume zur Problem- und Lebensbewältigung bereitgestellt werden können. Damit geraten nicht nur gesellschaftliche Bedingungen in den Blick, auch das professionelle Handeln in der Kinder- und Jugendarbeit wird zum Gegenstand einer selbstkritischen Reflexion. Dezidiert muss in den Blick genommen werden, welche Folgen der Krisenmodus der Kinder- und Jugendarbeit auf das professionelle Handeln hat und welche Alternativen sich anbieten. Auf welchen Prämissen beruht zum Beispiel eine Kinder- und Jugendarbeit, die ihren Adressat*innen digital und analog folgt und auch an der Grenze zu anderen Arbeitsbereichen omnipräsent ist? Welche Rolle spielen dabei zentrale Strukturcharakteristika wie Freiwilligkeit, Offenheit und die relative Machtarmut (vgl. Sturzenhecker 2006, S. 180 ff.)? Welcher (Bildungs-)Funktion wird der Kinder- und Jugendarbeit durch ein ‚„in die Bresche springen“ bei schulischen Curricula zuteil? Ein solcher, an dieser Stelle lediglich angerissener, reflexiver Konstituierungsprozess trägt die Möglichkeit in sich, die Anliegen junger Menschen wirklich zu berücksichtigen und die Kinder- und Jugendarbeit wieder offen als Aneignungsraum junger Menschen zu gestalten.
Literaturverzeichnis
Böhnisch, Lothar (1998): Der andere Blick auf die Geschichte. Jugendarbeit als Ort der Identitätsfindung und der jugendgemäßen Suche nach sozialer Integration. In: Lothar Böhnisch, Martin Rudolph und Barbara Wolf (Hg.): Jugendarbeit als Lebensort. Jugendpädagogische Orientierungen zwischen Offenheit und Halt. Weinheim: Juventa-Verl. (Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung), S. 19–38.
Bollig, Christiane (2020): Digitalisierung in der Mobilen Jugend(-sozial-)arbeit – im Spannungsfeld zwischen Professionalisierung und (Alltags-)Pragmatismus. In: Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann und Isabel Zorn (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz; Beltz Juventa, S. 468–479.
Deinet, Ulrich; Icking, Maria (2020): Offene Kinder- und Jugendarbeit und Schule. In: Petra Bollweg (Hg.): Handbuch Ganztagsbildung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 877–887.
Deinet, Ulrich; Krisch, Richard (2013): Mobile, aufsuchende Ansätze in der Offenen Jugendarbeit. In: Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 415–419.
Grunert, Cathleen; Krüger, Heinz-Hermann (2020): Peerbeziehungen. In: Petra Bollweg (Hg.): Handbuch Ganztagsbildung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 703–716.
Rauschenbach, Thomas; Mühlmann, Thomas; Schilling, Matthias; Pothmann, Jens; Meiner-Teubner (2019): Kinder- und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Online verfügbar unter https://www.pedocs.de/volltexte/2019/16913/pdf/Rauschenbach_et_al_2019_Kinder_Jugendhilfereport2018.pdf, zuletzt geprüft am 24.06.2020.
Röll, Franz Josef (2020): (Digitale) Medien in der Kinder- und Jugendarbeit. In: Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann und Isabel Zorn (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz; Beltz Juventa, S. 457–567.
Schröer, Wolfgang (2020): Blindflug. In: Sozial Extra 44 (4), S. 244–246.
Sturzenhecker, Benedikt (2006): „Wir machen ihnen ein Angebot, dass sie ablehnen können“. Strukturbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit und ihre Funktionalität für Bildung. In: Werner Lindner (Hg.): 1964 – 2004, vierzig Jahre Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland. Aufbruch, Aufstieg und neue Ungewissheit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 179–192.
Thiersch, Hans (1993): Strukturierte Offenheit. Zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. In: Thomas Rauschenbach, Friedrich Ortmann und Maria-E Karsten (Hg.): Der sozialpädagogische Blick: lebensweltorientierte Methoden in der sozialen Arbeit. Weinheim, München: Juventa-Verl., S. 11–28.
Zitiervorschlag: Janowitz, Michael (2020): Reflexionen zur Kinder- und Jugendarbeit im Krisenmodus. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://sozpaed-corona.de/reflexionen-zur-kinder-und-jugendarbeit-im-krisenmodus/)
Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Arbeitsbereich Sozialpädagogik/Sozialarbeit an der Philosophischen Fakultät III – Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Arbeitsschwerpunkte: Prekarisierung der Kinder- und Jugendarbeit, (Auto)ethnographische Organisationsforschung, Sozialpädagogik und Organisationspädagogik