Einer der dümmsten Kommentare zu Covid-19 stammt fraglos von Madonna. Ende März ließ die Pop-Ikone ihre Follower*innen via Twitter wissen, dass die Pandemie auch ihr Gutes habe. Denn – das Virus mache keinerlei Unterschiede: „Es kümmert sich nicht darum, wie reich man ist, wie berühmt man ist, wie lustig man ist, wie klug man ist, wo man lebt, wie alt man ist, welche erstaunlichen Geschichten man erzählen kann“, ließ sie vernehmen. Sie lag dabei, das sei hier nachgetragen, in einer Badewanne; auf dem Wasser trieben Blütenblätter; im Hintergrund lief Klaviermusik.
Das Virus erweise sich als „Gleichmacher“, das uns alle an unsere elementare Verletzbarkeit erinnere. Ob arm ob reich, ob Schwarz oder weiß, ob alt oder jung – wir alle sind gleichermaßen gefährdet, jede und jeder einzelne. Und am besten wäre es folglich, wenn wir uns – tja – ebenfalls in eine Burg vor den Toren Lissabons zurückziehen könnten? Mindestens aber doch die Öffentlichkeit meiden und die eigenen vier Wände nur im Notfall verlassen würden.
Die große Solidarisierung, auf die zunächst viele gehofft hatten, lässt noch auf sich warten. Auch wenn sich in den ersten Wochen der Pandemie tatsächlich ein Gefühl des „Aufeinander-angewiesen-Seins“ ausprägte und ein Wissen um die Abhängigkeit von den Angehörigen gering entlohnter Berufsgruppen, schlug das Pendel bald schon wieder zurück. In den USA verließen Vermögende ihre Villa, die ihnen nicht mehr sicher genug erschien, und zogen stattdessen auf die eigene Yacht um, die vor der Küste vor Anker ging. In Paris tauschten die Angehörigen der „besseren Kreise“ die Sommerfrische gegen die Stadtwohnung; ähnliches wurde in London beobachtet.
Die Wohlhabenden und Privilegierten traten, so steht zu vermuten, den Rückzug ins Private nicht nach eingehenden Butler-Lektüren oder der Teilnahme an Latour-Lesekreisen an, sondern mit dem feinen Gespür dafür, dass auch eine Pandemie durchaus kein schicksalhaftes Naturereignis ist. Und sie zeigten überdies wenig Interesse daran, Vulnerabilität als Kennzeichen der conditio humana auszuflaggen. Verletzbarkeit ist im globalen Maßstab wie auch zwischen den Geschlechtern höchst ungleich verteilt; sie wird politisch-ökonomisch reguliert und betrifft soziale Gruppen auf je spezifische und höchst differente Weise. Studiert man Statistiken aus den USA und interessiert sich dafür, wie hoch die Zahlen der Opfer unter Afroamerikaner*innen sind, zeigt sich, dass die Covid-19-Pandemie die gesellschaftlichen Verwerfungen verschärft und die Ungleichheit noch weiter vergrößert.
Das gilt auch für die Länder des Globalen Südens. Hier hat die eklatante Ungleichheit in den letzten Monaten noch einmal zugenommen. Unzureichender Zugang zum schlecht ausgestatteten staatlichen Gesundheitssystem, die Unmöglichkeit des „physical distancing“ in beengten Wohnverhältnissen, das Wegbrechen von Einkommensmöglichkeiten der Klein- und Straßenhändler*innen sowie das Fehlen warmer Mahlzeiten in Schulen und Kindergärten: All das bedroht nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch den öffentlichen Raum. Für viele Bewohner*innen von Favelas wird eine Einschränkung des öffentlichen Lebens schnell zur existenziellen ökonomischen Bedrohung; belebte Straßen sind für sie Voraussetzung dafür, dass sie ihrer Arbeit nachgehen können. Sie teilen damit das Schicksal der Geringqualifizierten und prekär Beschäftigten, die in den Ländern des Globalen Nordens darauf angewiesen sind, sich der Ansteckungsgefahr immer wieder aufs Neue auszusetzen, indem sie Regale in Supermärkten auffüllen, Busse steuern, den Müll entsorgen oder etwa die Pflege älterer Menschen gewährleisten.
Die Unterscheidung privat/öffentlich ist daher nicht nur geschlechtlich codiert, indem sie Männern und Frauen unterschiedliche Räume und Geschlechtsidentitäten zuweist. Diese patriarchale Ordnung wird nun von einer medizinischen Ordnung sowie ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen überlagert – und auf fatale Weise noch weiter verstärkt. Die Begegnung im öffentlichen Raum wurde bildungstheoretisch schon früh reflektiert, etwa von Schleiermacher, der in seiner Theorie der Geselligkeit die Erfahrung von Differenz feierte. Doch als diese Begegnung unversehens zur Gefahrenquelle mutierte, zogen sich jene, die ihrer Arbeit auch am Laptop nachgehen können, in das Eigenheim oder die geräumige Altbauwohnung zurück, eröffneten ihr „home office“ und halten die Besprechungen seither via Webex und Zoom ab.
Es soll an dieser Stelle gar nicht bestritten werden, dass die Digitalisierung von Kommunikation auch Vorteile birgt – aber nicht jede*r verfügt über die Mittel und Ressourcen, diese zu nutzen. Das ist nicht zuletzt für das pädagogische Feld bedeutsam, wenn Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien in der Schule den Anschluss verlieren, weil sie zuhause weder über Rückzugsorte zum Lernen noch über die notwendige technische Ausrüstung verfügen. Können Eltern nicht in ausreichendem Maße Unterstützung leisten, vergrößert sich auch unter Kindern und Jugendlichen die Chancenungleichheit.
Und so wurde auch der „Lockdown“ auf sehr unterschiedliche Weise erlebt: Während die einen unter schlechten Wohnverhältnissen und/oder Kurzarbeit litten, finanzielle Sorgen hatten und nicht wussten, wie sie die Betreuung ihrer Kindern gewährleisten sollten, verklärten die anderen die Unterbrechung des öffentlichen Lebens und der beruflichen Routinen zum großen Moment des Innehaltens und riefen zur existentiellen Besinnung auf.
Zwischenzeitlich hat sich die Situation erneut verändert: Nachdem wir nicht nur den R-Faktor kennengelernt haben und zu Expert*innen für Kurvenverläufe von Infektionen geworden sind, wissen wir auch mehr um die Verbreitung von Aerosolen und Tröpfcheninfektionen. Ausgerechnet geschlossene Räume, die zunächst als sichere Ort des Rückzugs galten, erscheinen nun als Gefahrenquellen – und so werden Sitzungen unter freiem Himmel abgehalten oder in zugigen Eingangsbereichen von Behörden. Aber auch dabei kommt es nicht zur Gleichmacherei, wie von Madonna insinuiert. Privilegierte soziale Gruppen, zu denen auch die Verfasser*innen dieser Zeilen gehören, nehmen erneut Einfluss auf die Regulierung von privat/öffentlich und haben dabei, so scheint es, zumeist die eigenen Interessen im Blick.
Zitiervorschlag: Feldmann, Milena & Rieger-Ladich, Markus (2020): Privatheit, Öffentlichkeit, Solidarität. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34491
Milena Feldmann
Studentische Mitarbeiter*in am Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Forschungsinteressen: Praxistheorien, Bildungstheorien im internationalen Vergleich, Geragogik
Kontakt: milena.feldmann@student.uni-tuebingen.de
Markus Rieger-Ladich
Professor*in für Allgemeine Pädagogik, Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Sozialtheorie, politische Ästhetik