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Nicht systemrelevant? Die Sicht junger Menschen auf die Corona-Krise

Anfang April waren weltweit mehr als 1,5 Mrd. junger Menschen von der Schließung ihrer Bildungseinrichtungen betroffen (UNESCO 2020). Geschlossen wurden jedoch nicht nur Schulen, sondern auch Kindertagesstätten, Spielplätze, Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, Sport- und Freizeitstätten, öffentliche Parks und dergleichen mehr. Kontakte zu Großeltern und Freund*innen waren nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. All diese Orte und die mit ihnen verbundenen Sozialbeziehungen stellen wichtige Momente der Lebenswelten junger Menschen dar. Kinder und Jugendliche sind also genauso sehr und doch nochmals auf besondere Weise von der Corona-Krise betroffen.

Diese spezifische Betroffenheit steht in einem starken Kontrast zur Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen und politischen Diskurs über die Krise. Obwohl etwa Schulschließungen zu den ersten einschneidenden Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie gehörten – in Deutschland geschah dies zwischen dem 16. und 23. März – zunächst auf die Frage begrenzt, inwieweit Kinder und Jugendliche als selbst nicht gefährdete, aber wohl gefährliche Virusüberträger eingestuft werden müssen. Später dann wurden sie allenfalls mittelbar adressiert als es Auswirkungen des Homeschooling, die Organisation von Abschlussprüfungen oder die Betreuungsprobleme von Eltern und Familien ging. Nicht selten kam es zu Stereotypisierungen, die der (sozialwissenschaftlichen) Kindheits- und Jugendforschung sehr vertraut sind, aber im Grunde längst überwunden schienen, wie etwa mit Blick auf die vermeintlichen jugendlichen „Regelbrecher“, die mit illegalen Partys die verhängten Schutzmaßnahmen sabotieren. Andere Befürchtungen richteten sich auf die mögliche Zunahme von Fällen der Kindeswohlgefährdung, was zwar triftig ist, aber auch als Stigmatisierung sozial benachteiligter Familien aufgefasst werden kann.

Inzwischen gibt es einige Studien, die einen Einblick geben, wie Kinder und Jugendliche die erste Phase der Pandemiebekämpfung selbst erlebt haben. In Deutschland gehören dazu etwa die KiCO- sowie die JuCO-Studie (vgl. Andresen et al. 2020a, b), die Studie „Kindsein in Zeiten von Corona“ (Langmeyer et. al 2020) und die Studie „COVID KIDS“ der Universitäten Tübingen und Luxemburg, die auch jüngere Kinder aus 16 verschiedenen Staaten direkt befragt.

Die KiCO- und die JuCO-Studie zeigen sehr deutlich, wie sich die fehlende Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im Corona-Diskurs in ihrer eigenen Wahrnehmung widerspiegelt. So etwa stimmen über 45 % der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Aussage nicht oder eher nicht zu, dass ihre Sorgen im Moment gehört werden (Andresen et al. 2020b). Eine australische Studie wiederum hat nochmals differenzierter dargelegt, worin sich die Position von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise von derjenigen Erwachsener unterscheidet. Ergebnissen eines Online-Survey mit 11- bis 17-Jährigen zufolge geben 40% der Befragten an, dass sich die Diskussionen vor allem um die Sorgen von Eltern und Erziehungsberechtigten drehen; 38% fühlen sich als unverantwortlich Handelnde stereotypisiert und 25% sind der Meinung, junge Menschen würden nicht als gleichberechtigte Diskursteilnehmende wahrgenommen (UNICEF Australia 2020).

Die in verschiedenen Ländern von NGO´s, regierungsnahen Behörden, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen initiierten Studien liefern aber noch weitere Daten und Informationen. Auch wenn diese Studien nicht immer Kinder und Jugendliche direkt, sondern häufig lediglich Eltern befragt haben und aufgrund des selbstselektiven Charakters von Online-Surveys einen Mittelschichtbias aufweisen, leisten sie einen ersten Beitrag dazu, die Auswirkungen der Maßnahmen auf die jüngeren Bevölkerungsmitglieder besser zu verstehen. Überdeutlich ist zum Beispiel, dass es in der ersten Periode für einen gewissen Zeitraum zu einer regelrechten Re-Familialisierung von Kindheit und Jugend gekommen ist.

Dabei schrumpfte die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Bezugspersonen außerhalb des eigenen Haushalts verbracht haben drastisch „zugunsten“ der Zeit mit Eltern und Geschwistern (vgl. Langmeyer et al. 2020). Partiell wurde dies zwar als Entlastung von einem in der Regel eng getakteten Alltagsrhythmus erfahren (Andresen et al. 2020a, b). Jedoch sank im gleichen Zeitraum auch die allgemeine Lebenszufriedenheit und die Sorgen nahmen zu, einer britischen Studie zufolge sogar bei Kindern und Jugendlichen mehr als bei Erwachsenen (Fox et al. 2020). Dabei wird angenommen, dass auch die Dauer von Beschränkungen eine Rolle spielt: Je länger diese anhalten, umso deutlicher nimmt bei jungen Menschen die Zuversicht ab, die Situation noch bewältigen zu können (UNICEF Australia 2020).

Als größten Einschnitt in der Corona-Krise nehmen Kinder und Jugendliche wahr, Freund*innen nicht mehr oder zumindest nicht mehr real treffen zu können sehen zu können (vgl. z.B. Children´s Commissioner for Wales 2020). Dazu passt der Befund, dass – über verschiedene Studien hinweg – die Sorge vor sozialer Isolation und um die Beziehungen zu Freunden von bis zu 60% der Kinder und Jugendlichen hervorgehoben wird (Children´s Parliament 2020; Children´s Commissioner for Wales 2020; UNICEF Australia 2020). Damit rangiert diese Sorge noch vor jenen, die sich auf die Bewältigung der aktuellen schulischen Anforderungen (Homeschooling, Prüfungen etc.) beziehen. Sie wird wiederum von der Angst vor einer Erkrankung nahestehender Angehöriger noch übertroffen (Forsa 2020). Wenig verwunderlich ist ebenfalls, dass Unsicherheit bezogen auf die Zukunft, die eigene Bildungsbiographie sowie die Dauer der Krise zu den am häufigsten genannten Sorgen bei jungen Menschen zählen (vgl. National Youth Trends 2020; T-Factory 2020). Kinder und Jugendliche, die sich an Bildungsübergängen befinden, sind davon nochmals besonders betroffen (Andresen et al. 2020b; UNICEF Australia 2020). Wichtig ist aber auch der Befund, dass Kinder und Jugendliche sich umso weniger Sorgen machen, je besser sie sich über die aktuelle Lage informiert fühlen (Götz et al. 2020).

Die Kindheits- und Jugendforschung hat erst mit einem gewissen zeitlichen Verzug Anstrengungen unternommen, um die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebenssituation und das subjektive Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in den Blick zu nehmen. Dass sich dabei eine Parallele zur Konjunktur des öffentlichen und politischen Diskurses offenbart, der ebenfalls erst reichlich spät und bis heute unzureichend auf die spezifische Lage junger Menschen reagiert, ist sicher eine der vielen Lehren, die aus dieser Krise zu ziehen wären. Dies ist kein unmittelbarer Effekt der Pandemie, aber es gehört zu jenen gesellschaftlichen Defiziten, die sie offenlegt. Schonungsloser noch als im Bereich der Forschung gilt dies mit Blick auf die Defizite bei der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. Sie sind tief in die generationale Ungleichheitsordnung eingeschrieben. So wie die Krise diese Ungleichheitsordnung ans Licht bringt, kann die Kindheits- und Jugendforschung diese Ordnung durch die Beschäftigung mit den Auswirkungen der Krise in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Dass Kindheit und Jugend für Kinder und Jugendliche selbst offenbar mehr als Schule und Familie sind gehört dabei genauso zu den Einsichten wie der nachhaltige Eindruck, dass ihre Teilhabe- und Beteiligungsrechte nach wie vor ein prekäres Gut darstellen.

Literaturverweise

Andresen, S./Lips, A./Möller, R./Rusack, T./Schröer, W./Thomas, S./Wilmes, J. (2020a): Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim.

Andresen, S./Lips, A./Möller, R./Rusack, T./Schröer, W./Thomas, S./Wilmes, J. (2020b): Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim.

Children´s Commissioner for Wales (2020): Coronavirus and me. https://www.childcomwales.org.uk/wp-content/uploads/2020/06/FINAL_formattedCVRep_EN.pdf Abruf am 05.07.2020.

Children´s Parliament (2020): How are you doing? A report on Children’s Parliament national wellbeing survey for children. https://www.childrensparliament.org.uk/our-work/children-and-coronavirus/ Abruf am 04.07.2020.

Fox, E./Parsons, S./Todorovic, A./Songco, A./Lim, M. (2020): Oxford ARC Study. Achieving Resilience during COVID-19. Summary Report 1. https://oxfordarcstudycom.files.wordpress.com/2020/05/oxfordarcstudy_report_1-1.pdf Abruf am 02.07.2020.

Forsa (2020). Familienleben während der CoronaKrise. Berlin: Forsa Politik- und Sozialforschung.

Götz, M. et al. (2020): Children, COVID-19 and the media. In: TELEVIZION, 33/2020, S. 4-9.

Langmeyer, A./Guglhör-Rudan, A./Naab, T., Urlen, N./Winklhofer, U. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. München: DJI.

National Youth Trends (2020): Take the Temperature. A National Youth Trends Report Understanding the Impact of Coronavirus on Young People in the UK. https://www.beatfreeksyouthtrends.com/take-the-temperature  Abruf am 03.07.2020.

T-Factory (2020). Jugendwertestudie 2020. Der Corona-Report.

https://www.tfactory.com/media/orig/Studieninformation_Jugendwertestudie2020_Der%20Corona-Report_tfactory.pdf Abruf am 04.07.2020.

UNESCO (2020): COVID-19 Impact on Education. https://en.unesco.org/covid19/educationresponse Abruf am 05.07.2020.

UNICEF Australia (2020): “Living in Limbo”. The views and experiences of young people in Australia at the start of the COVID-19 pandemic and national response. https://www.unicef.org.au/our-work/unicef-in-emergencies/coronavirus-covid-19/young-people-survey-australia Abruf am 05.07.2020

Infos zur Studie COVID KIDS: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/wirtschafts-und-sozialwissenschaftliche-fakultaet/faecher/fachbereich-sozialwissenschaften/erziehungswissenschaft/abteilungen/sozialpaedagogik/forschungsprojekte/aktuelle-forschungsprojekte/covid-kids/

 

Zitiervorschlag: Neumann, Sascha (2020): Nicht systemrelevant? Die Sicht junger Menschen auf die Corona-Krise. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33945

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