Die Pandemie zwingt uns eine Nähe auf, der wir in der westlichen Welt im vergangenen Jahrhundert entkommen wollten. Nun finden wir uns zurückgeworfen auf eine anthropologische Tatsache: auf unseren verletzbaren Körper und Leib – was überhaupt kann näher sein? Mit zahlreichen kulturellen Praktiken, gerade auch den naturwissenschaftlichen, sollte das Leiden, auch durch unseren Körper, abgewehrt werden, und damit haben wir die Illusion von Unverletzbarkeit und Leidensvermeidung befördert, wir müssten uns der Lebenstatsache Schmerz, Krankheit, Trauer und Tod nicht mehr stellen. In diesem kollektiven Abwehrtaumel scheinen uns die Fähigkeiten, mit der Hinfälligkeit des Körpers und mit Ängsten, Besorgnis und Trauer umzugehen, verloren gegangen zu sein.
Pädagogik muss sich diesen Anforderungen stellen: Rituale der Trauer, der Ängste und der Besorgnis sind (neu) zu entwickeln. Und es ist sich für die Sicherung leistungsfreier Lebensräume zu engagieren, in denen subjektive/r Ängste und Ärger – jenseits rascher medikamentöser und technokratischer Beseitigung – durch ein wirkliches Gegenüber, im Wissen um ihre gesellschaftliche Mitbedingtheit, beantwortet und darüber Optionen zu selbstbewusster und selbstbestimmter Aktivität eröffnet werden.
Auch Nähe in sozialen Situationen beschreibt ein leib-sinnliches Moment. Sie hat mit der Erfahrung von (nicht zwingend physischem) Berührtwerden und Berührtsein als affektives und gefühlsmäßiges Geschehen zu tun. Gefühle haben bedeutet – in ETWAS involviert sein. Begegnung ist nicht auf eine schlichte Ich-Du-Beziehung zu reduzieren, sondern ist in einer grundsätzlich triadischen Struktur eingelagert. Eine Begegnung wird erfahren und eine Beziehung entwickelt sich, indem die beteiligten Akteur*innen sich, über eine gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit(-srichtung), aufeinander beziehen. Diese Anerkennung des gemeinsam erzeugten Dritten – das beiden zugleich gehört und doch nicht gehört – ist eine Voraussetzung für die Beziehungsbildung und -entwicklung. Darüber erst bildet sich Nähe als Vertrautheit, Geborgenheit, Anerkennung und Achtung aus: Wenn ich erlebe, dass meine Äußerungen wahrgenommen, aufgenommen und verstanden werden, oder jemand meine Interessen mit mir teilt, vollzieht sich eine gefühlsmäßige Erfahrung, konstituiert sich eine halt- und strukturgebende Nähe, die nicht nur die Entwicklung des Selbst fundiert, sondern auch Lernen erst ermöglicht.
Dabei ist Nähe nicht ohne Distanz zu begreifen – und das nicht erst im Angesicht der Pandemie. Vielmehr sind Nähe und Distanz dynamisch miteinander verbunden: Nähe verweist auf Distanz und umgekehrt. Mit guten Gründen wird daher in der (sozial-)pädagogischen Theorie von einer „professionellen Nähe-Distanz-Regulation“ gesprochen, da Begegnung und Beziehung als eine – oftmals prekäre – vielschichtige und sowohl durch sozialkulturelle wie unbewusste Dynamiken gebrochene Gemengelage zu begreifen sind. Entsprechend der Anforderungen einer pädagogischen Situation sind Nähe und Distanz daher immer wieder neu auszubalancieren. Dieser Reflexionshorizont ist selbst durch die gebotene ‚soziale Distanz’ in der Pandemie nicht in Frage gestellt.
Aber: Bereits im Zuge der unerlässlichen Auseinandersetzungen über (sexuelle und sexualisierte) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche droht in manchen Abhandlungen über Nähe und Distanz eine notwendige Differenzierung verloren zu gehen, was unter pädagogischer Nähe zu verstehen ist und welches entwicklungsfördernde wie strukturbildende Gewicht „Nähe“ in der pädagogischen Praxis hat. Das notwendige Bemühen um eine Verhinderung sexueller und sexualisierter Gewalt wird oft durch eine inflationäre und einseitige Rede von der „professionellen Distanz“ begleitet. „Nähe“ wird als gefährlich konnotiert, sie sollte vermieden werden, so scheint es. Meine Befürchtung ist, dass diese fatale Tendenz, begleitet von Beziehungskälte und einer Negation des menschlichen Begehrens, nun zusätzlich durch COVID-19 dynamisiert wird: Aufgrund der virologisch begründeten Abstandsregeln kann sich diese „professionelle Distanz“ nun noch bequemer als professionelle Praxis ausgeben und die Nähe konstituierende trianguläre Grundstruktur pädagogischen Handelns zerstören.
Obgleich die Frage, wie eine digitalisierte Art von Nähe sich von analogen Erfahrungen unterscheidet, meines Erachtens nicht hinreichend geklärt ist, zeigen Kinder und Jugendliche, die sich über kreative Ideen in der Corona-Krise für ihre Verwandten und andere Mitmenschen engagieren, zahlreich, dass auch digitale Plattformen für ein gemeinsam geteiltes Drittes für gegenseitig emotional-stabilisierende Nähe-Erfahrungen genutzt werden können. Zugleich kann hier soziale Verbundenheit und Solidarität ihren Ausdruck finden. In Zeiten sozialer Distanz ist dieses, auch von vielen Fachkräften gezeigte, Engagement auszubauen. Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Adressat*innen und gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen neue Rituale zu entwickeln und neue Formen der Begegnung auszuprobieren, die Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Orientierung und schlicht Spaß und Freude mit anderen gestatten. Es geht um Begegnungen, in denen menschliche Bedürfnisse, Ängste und Ärger ebenso Gehör finden wie um Möglichkeiten, sich an Informations- und Hilfeaktionen zu beteiligen und an Entscheidungen über Lockerungen des lockdown in der eigenen Lebenswelt mitzuwirken und darüber Solidarität – als Nähe – mit anderen aktiv zu leben und erleben zu können.
Zitiervorschlag: Dörr, Margret (2020): Nähe in sozialer Distanz. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33941
Professor*in für Theorien Sozialer Arbeit und Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften
Arbeitsschwerpunkte: Recovery-förderliche Arbeitsbündnisse in der Gemeindepsychiatrie, Psychoanalytische Sozialpädagogik
Kontakt: margret.doerr@kh-mz.de