Ich bin die vielen Resolutionen und Statements zu Corona so leid. Und jetzt schreibe ich auch noch selbst eins. Gegen den Großteil der Positionierung (gerade aus den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit) habe ich gar nichts vorzubringen. Ich könnte die meisten von ihnen unterschreiben, und vielleicht habe ich das vor Corona sogar schon getan: Ja, die soziale Ungleichheit ist immer noch dramatisch; ja, die Benachteiligung der Benachteiligten ist ein Skandal; ja, Armut in Deutschland schreit zum Himmel; ja, die Soziale Arbeit und die Care-Arbeit sind systemrelevant und müssen besser bezahlt und ausgebaut werden; ja, der Lockdown setzt Kinder, Frauen und Andere vermehrt häuslicher Gewalt aus; ja, er verringert die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen; ja, Kinder und Jugendliche konnten ihre Meinungen nicht öffentlich einbringen und ihre ohnehin geringe Partizipation war jetzt völlig still gestellt.
Still gestellt waren allerdings nicht die Expert*innen. Sie waren die ganze Zeit auf Sendung: im TV, in den Feuilletons, den Unterschriftsammlungen, in Rundmails, Podcasts, Videobotschaften und Blogs. Die Botschaft der Sendungen war häufig: Corona bestätigt, was wir Expert*innen immer schon gesagt hatten und das sogar häufig noch in verschärfter Weise. Die schon vorgefassten Kernbegriffe, wie Ungleichheit, Biopolitik, Beschleunigung, Gewalt, Benachteiligung, Bildungskatastrophe, Paternalismus, etc., wurden genüsslich als Analyse auch des Neuen ausgewalzt und es wurde das gefordert, was vorher auch schon gefordert wurde. In einer Art Kairos einer apokalyptisch befeuerten Befreiungschance schien für manche endlich der Moment gekommen, dass die eigene Botschaft und Vision hätte wahr werden können (ja, „können“, denn der Moment der höchsten Wunschlust ist schon wieder vorbei). Nichts sei mehr wie vorher. Der Messias also doch eingetroffen, oder der Kapitalismus auf der Kippe, oder die Anerkennung der Sozialen Arbeit greifbar nahe, oder wenigstens die schlimmsten eigenen Prognosen und Dystopien auf schönst-schreckliche Weise eingetreten?
Und dann kamen selbstverständlich die Dachverbände und Lobbygruppen, auch der Sozialen Arbeit, die ihren Resolutionsapparat anwarfen. Handeln hieß in diesen Wochen Resolutionen raushauen und Forderungen maximieren. Und wer wollte das kritisieren? Auch für Hannah Arendt war die Möglichkeit „Man kann ja die Schnauze halten.“ (im Interview mit Günter Gaus 1964) nur eine denkbare, aber nicht praktizierbare Alternative. Und wer hätte in der aktuellen Situation nun vorschlagen wollen, in dem Kampf um staatliche Hilfszahlungen und Unterstützungsprogramme zu schweigen?
In den zahlreichen Positionierungen der Expert*innen auch aus unserer Disziplin schien es aber auch um die Ressourcen der öffentlichen Aufmerksamkeit zu gehen. Des studentischen Publikums schmerzhaft verlustig gegangen, allein am Schreibtisch oder in den Zoomkonferenzen am Bildschirm überkam so manche*n der Drang, jetzt schnell etwas Schlaues zu sagen, die Klarsicht der eigenen Analysen zu belegen und Wege aus dem Dunkeln zu weisen. Und zwar genau bevor die Kolleg*innen einem diesen Vorsprung nehmen konnten.
Dieses Theater hatte auch etwas Funktionalisierendes, denn es wurde sehr viel „im Namen von gesprochen“, doch die Besprochenen kamen gar nicht zur Sprache. Obwohl selbstverständlich die Partizipation der Sprachlosen von der Disziplin dringend in Richtung Profession gefordert wurde.
Die Profession aber hatte erst mal (anderes) zu tun. Nicht nur mit dem Lockdown in der stationären Heimerziehung, mit den Notdiensten in Kitas und Drogenberatungsstellen und mit dem Verschwinden der Besucher*innen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder der Isolation von alten Menschen oder Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen, sondern auch mit der eigenen „Bewältigung von Ungewissheit“.
Es ist nun einmal Charakteristikum einer Krise, dass man erst mal nicht mehr weiß, was man tun soll. Und die Irritation, vielleicht der Schock können auch zur Paralysierung führen.
Die Oevermannsche Charakterisierung der alltäglichen Lebensführung und ihrer professionellen Unterstützung als oszillierender (Bildung-)Prozess zwischen „Krise und Routine“, ist aus analytischer Distanz durchaus attraktiv. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zusammenbruch von Routinen mit ihren gewohnten Deutungs- und Handlungsschemata hart ist und Phasen mit sich bringt, wie zum Beispiel der störrischen Beharrung, der Verstörung und Angst, der Wut, der Anklage und Schuldzuweisung usw., bevor langsam Bewältigungskräfte wachsen.
Und vielleicht wäre es doch etwas Neues, wenn sich die Expert*innen und Lobbyisten selbst auch einen solchen Moment der Verunsicherung und des Nicht-weiter-wissens gönnen würden, bevor dann morgen wieder ‚new normal‘ zu ‚old normal‘ geworden sein wird.
Zitiervorschlag: Sturzenhecker, Benedikt (2020): „Man kann ja die Schnauze halten“ (Arendt). In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33942
Professor*in für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sozialpädagogik und außerschulischen Bildung an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft
Arbeitsschwerpunkte: Demokratiebildung in der Kinder- und Jugendhilfe