Wie erleb(t)en junge Menschen und Familien, welche Hilfen zur Erziehung (HzE) oder Hilfen für Junge Volljährige gemäß SGB VIII in Anspruch nehmen, die Zeit der COVID-19-Pandemie? Diese Frage wurde im Masterstudiengang „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“ der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin unter Leitung von Prof. Dr. Regina Rätz aufgegriffen und im Sommersemester 2021 in einem Praxisforschungsprojekt erforscht. Es können nun erste Antworten auf die oben gestellte Frage gegeben werden. Ein großer Dank gilt der ASH Berlin, den Interviewpartner*innen und den beteiligten Fachkräften für die Unterstützung des Projektes.
Forschungsstand und forschungsmethodischer Zugang
Einige quantitative Studien, bei welchen Kinder, Jugendliche und Eltern zu der COVID-19-Pandemie befragt wurden, lagen bereits kurze Zeit nach Beginn der Pandemie vor[1]. Die Perspektive der Adressat*innen Sozialer Arbeit auf die Pandemie wurde hingegen bislang nicht untersucht (vgl. Aghamiri/Streck/van Rießen 2021; Gaupp et al. 2021). In einer Untersuchung des SOS Kinderdorf (2020) wurden Care-Leaver direkt gefragt, wie es ihnen in der Corona-Pandemie geht.
Der Feldzugang wurde durch eine Kooperation mit dem Jugendamt Berlin Mitte hergestellt. Zum einen wurden Interviewpartner*innen von fallzuständigen RSD[2]-Mitarbeitenden vermittelt. Zum anderen beteiligten sich freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe an der Vermittlung von Interviewpersonen. Zudem entstand ein Interview durch eigene Kontakte im beruflichen Kontext einer Studierenden. Insgesamt konnten im Rahmen des Praxisforschungsprojektes zwölf Interviews geführt werden, die als Datengrundlage herangezogen wurden. Das Sample setzte sich aus sieben weiblichen, vier männlichen und einer diversen Interviewperson zusammen. Fünf der Interviewten waren Eltern(teile), die in einer Familienkonstellation mit Kindern lebten. Außerdem erklärten sich sechs junge Volljährige und ein*e Jugendlich*e zum Interview bereit. Zwei Personen des Samples nahmen ambulante Hilfen nach § 27 i.V.m. § 31 SGB VIII (Sozialpädagogische Familienhilfe) in Anspruch. Drei Kinder aus den Familienkonstellationen und ein*e Jugendliche*r lebten zum Zeitpunkt der Interviews in einer betreuten Wohnform nach § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII. Fünf junge Volljährige nahmen stationäre Hilfen nach § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII in Anspruch und lebten im betreuten Einzelwohnen (BEW). Eine Person lebte in einer therapeutischen Wohngruppe (§ 41 i.V.m. §35a SGB VIII). Das Alter der Interviewten betrug mindestens 17 und höchstens 62 Jahre.
Die Praxisforschung erfolgte explorativ. Für die Erhebung wurden narrative Interviews (vgl. Rosenthal 2015), ergänzt durch einen externen Leitfaden mit thematischen Setzungen, geführt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 79). Diese Interviewform ermöglichte den Interviewten, erlebte Handlungen und Geschehnisse in ihrer selbst gewählten zeitlich-kausalen Abfolge zu erzählen (vgl. ebd.). Den Interviewten wurde eine erzählgenerierende Eingangsfrage gestellt, welche sie in ihrer thematisch gesetzten Reihenfolge beantworteten, ohne dabei unterbrochen zu werden. Ethische Grundsätze, Datenschutz und Beteiligung waren im gesamten Prozess handlungsleitend (vgl. Rätz et al. 2022, S. 6 f.).
Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgte sequenzanalytisch unter Bezugnahme auf die objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion nach Ulrich Oevermann (2000). In der Sequenzanalyse kann nicht das tatsächliche Erleben rekonstruiert werden, sondern wie dieses in den Interviews erinnert und sinnhaft präsentiert wird. Für die Auswertung wurde der transkribierte Interviewtext in thematisch abgegrenzte Sequenzen unterteilt. Diese wurden von Beginn des Interviews an aufeinander folgend interpretiert. In der Interpretation wurden für die einzelne Sequenz abduktiv Hypothesen gebildet, die dann schrittweise in der nächsten Sequenz falsifiziert oder verifiziert wurden. Dabei wurde untersucht, wie das interpretierte Material zu verstehen ist und wie es sich in den folgenden Sequenzen weiterentwickeln könnte. Die Struktur des Falls gilt als erfasst, wenn sich die gebildeten Hypothesen fortlaufend in jeder Sequenz bestätigen (vgl. Wernet 2009, S. 21 ff.). Nach der Rekonstruktion der Struktur eines Falls wurden diese theoretisch verallgemeinert. Die Typenbildung fand somit am Einzelfall statt (vgl. Rosenthal 2015). Die Fallrekonstruktionen und Falltypen wurden abschließend im Vergleich miteinander einer minimalen und einer maximalen Kontrastierung unterzogen.
Ergebnisse
Aus dem Sample konnten fünf Falltypen herausgearbeitet werden, die hier im Überblick vorgestellt werden. Mit der Formulierung eines Typus wird das für diesen Fall hervorstechende auf einer verallgemeinernden Ebene formuliert. Die Reihenfolge der Nennung ist dabei ohne Bedeutung:
Der Typ A vermisst während der Pandemie soziale Beziehungen, also Kontakte zu anderen Menschen und fühlt sich innerlich allein. Dabei geht es nicht einfach nur darum, andere Menschen zu treffen, sondern es geht um soziale Kontakte zu Personen, die jeweils eine konkrete Funktion im Leben der interviewten Person erfüllen. Hier ist auch der Verlust von regelmäßigen Kontakten zu Fachkräften der Sozialen Arbeit während der Pandemie, deren Fachkompetenz bei der Bewältigung von aktuellen Problemen, die sich während der Pandemie verstärken, vermisst wird, bedeutsam.
Bei Typ B ist zentral, dass sich der Hilfeverlauf während der Pandemie zeitlich verzögerte und geplante Schritte über mehrere Monate hinweg nicht umgesetzt wurden. Diese Situation ist jedoch von den betroffenen Personen nicht beeinflussbar, sondern sie müssen auf die Entscheidungen anderer bspw. des Hilfesystems warten. Sie erleben sich als machtlos. Das eigene Leben wird ausgebremst. Bisher Erreichtes ist in Gefahr und Rückschläge werden befürchtet. Beispiele sind die ‚Rückführung‘ der Kinder aus stationären Unterbringungen in den eigenen Haushalt bei Familien oder die Suche nach einer Wohnung bzw. einem Job bei Jungen Volljährigen.
Beim Typ C wird die Verschiebung von individuellen Problemen in der Pandemie zum zentralen Erleben. Vor dem Hintergrund einer eigenen psychischen Belastung wird der Lockdown mit der Reduzierung sozialer Kontakte und täglicher Wege als Entlastung erlebt. Die Situation, weniger äußeren Reizen ausgesetzt zu sein, wird als stressmildernd empfunden. Allerdings entstehen während der Pandemie neue Probleme, vor allem in Bildungsinstitutionen, bei denen die soziale Benachteiligung deutlich und die eigene Zukunft ungewiss wird.
Typ D erlebt während der gesellschaftlichen Krise der Pandemie eine persönliche Krise, deren Bewältigung wiederum durch die äußeren pandemischen Bedingungen erschwert wird. Unter anderem durch diskontinuierliche Kontakte zum Hilfesystem entsteht das Erleben von Ohnmacht und der Eindruck, dem Geschehen ausgeliefert zu sein. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind in diesem Kontext stark eingeschränkt. Gespräche mit Fachkräften der Sozialen Arbeit, in denen zugehört wird, oder ein eindeutiger institutioneller Rahmen, an dem die Adressat*innen Orientierung finden können, werden als hilfreich erlebt.
Beim Typ E zeigt sich eine Verlaufskurve (vgl. Schütze 2006), d.h. im Fortgang der Pandemie gehen die eigenen Handlungsmöglichkeiten nach und nach verloren, bis die Dinge des Alltags wie bspw. der Tagesablauf, die Versorgung der Grundbedürfnisse wie Essen und Schlafen, der Schulbesuch, die Freizeitgestaltung, die Ziele des Hilfeplans geschehen, ohne dass die Person darauf noch Einfluss nehmen kann. Die so entstehende Ausweglosigkeit kann nicht mehr selbst überwunden werden. Hilfestellungen und -angebote durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit können nicht aufgenommen werden. Die Person ist dem Geschehen machtlos ausgeliefert.
Fazit
In der Analyse des Materials wurde deutlich, dass die Interviewten sich sprachlich als heteronom im Hilfesystem präsentieren und einen hohen (inneren) Druck in der Pandemie u.a. durch die Anforderungen des Hilfesystems thematisieren. Dies wird von den Interviewten als Erfahrung des Ausgeliefertseins von Entscheidungen des Hilfesystems und als ein Gefühl von Ohnmacht wahrgenommen. Damit verbunden sind Begrenzungen in den eigenen Handlungsmöglichkeiten und unausweichliche Auseinandersetzungen mit dem ‚Alleinsein‘. Gleichzeitig wird durch mehrere Interviewte Dankbarkeit für die Hilfen sowie ein großes Verständnis für die Arbeitsbelastung der Fachkräfte geäußert und das Bestreben, diesen nicht zur Last fallen zu wollen – auch nicht, wenn die Interviewten selbst an COVID-19 erkranken und auf Versorgung durch die Fachkräfte angewiesen sind.
Diese Präsentationen der Interviewten von Heteronomie und Druck durch das Hilfesystem stehen dem (gesetzlichen und fachlichen) Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe resp. Sozialen Arbeit in der Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung der Adressat*innen entgegen. Denn eben diese Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung durch die Unterstützung des Hilfesystems im Kontext der gesellschaftlichen Eindämmungsverordnungen zur SARS-CoV-2-Pandemie wird durch die Interviewten selbst nicht thematisiert und auch bei den Nachfragen nicht bestätigt. Auch gibt es keine Hinweise im Material auf die Beteiligung der Adressat*innen in Bezug auf die Ausgestaltung der staatlich/behördlich vorgegebenen Regelungen in der Pandemie innerhalb der Hilfen und bei der Hilfeplanung bspw. in der Gestaltung der Kontakte, der Hilfeplanziele, der Dauer der Hilfen. Aus Sicht der Adressat*innen wurde in der Zeit der Pandemie der Druck größer und für die Interviewten existentieller, wie es exemplarisch in dieser Textstelle formuliert wird: „weil immer dieser Druck da ist, so dass du denken musst, du musst ja deine Hilfeplansachen machen, damit du nicht rausfliegst und solche Sachen“.
[1] Eine aktuelle Übersicht über sozialwissenschaftliche Studien zur COVID-19-Pandemie auf: https://www. konsortswd.de/ratswd/themen/corona/ (letzter Abruf: 10.03.2022) und auf dem Fachkräfteportal Kinder- und Jugendhilfe: https://www.jugendhilfeportal.de/coronavirus/wissenschaft/(letzter Abruf: 10.03.2022)
[2] RSD ist im Bundesland Berlin die Bezeichnung für den Regionalen Sozialpädagogischen Dienst als Basisdienst des Jugendamtes. In anderen Bundesländern wird dafür die Bezeichnung ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) verwendet.
Literatur
Aghamiri, Kathrin/Streck, Rebekka/van Rießen, Anne (2021): Die Stimmen der Adressat*innen in der Corona Pandemie. In: Böhmer, Anselm/Engelbracht, Mischa/Hünersdorf, Bettina/Kessl, Fabian/Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. https://sozpaed-corona.de/die-stimmen-der-adressatinnen-in-der-corona-pandemie/ (letzter Abruf: 10.03.2022).
Gaupp, Nora/Holthusen, Bernd/Milbradt, Björn/Lüders, Christian/Seckinger, Mike (Hrsg.) (2021): Jugend ermöglichen – auch unter den Bedingungen des Pandemieschutzes. München: Deutsches Jugendinstitut e. V., verfügbar unter: https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/30571-jugend-ermoeglichen-auch-unter-den-bedingungen-des-pandemieschutzes.html (letzter Abruf: 10.03.2022).
Oevermann, Ulrich (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Kraimer, Klaus (Hrsg.): Die Fallrekonstruktion: Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 58-156.
Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4. Auflage. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Rätz, Regina/Baumann, Annika/Brattig, Nicole/Knes-Zierold, Mirjam/Lipp, Canan/Wirth, Robert (2022): „Ja, in Quarantäne war ich auch noch.“ Leben und Alltag mit der Corona- Pandemie aus Sicht von Menschen in den Hilfen zur Erziehung (HzE) und den Hilfen für Junge Volljährige (HfJV). Berlin: Alice-Salomon-Hochschule Berlin, verfügbar unter: https://opus4.kobv.de/opus4-ash/frontdoor/index/index/docId/495 (letzter Abruf: 08.05.2022).
Rosenthal, Gabriele (2015): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. 5. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Schütze, Fritz (2006): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 205-237.
SOS Kinderdorf (2020): Befragung von SOS-Ehemaligen. Wie geht es Care-Leavern in der Corona-Pandemie? Verfügbar unter: https://www.sos-kinderdorf.de/portal/paedagogik/corona/befragung-von-sos-ehemaligen?utm_source=cleverreach&utm_medium=newsletter&utm_campaign=sos-fachnews-03-2021&utm_content=ehemalige-teaser2 (letzter Abruf: 10.03.2022).
Wernet, Andreas (2009): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Factsheet zur Studie: https://opus4.kobv.de/opus4-ash/frontdoor/index/index/searchtype/latest/start/5/rows/10/docId/495
Zitiervorschlag: Rätz, Regina; Baumann, Annika; Brattig, Nicole; Knes-Zierold, Mirjam; Lipp, Canan; Wirth, Robert (2022): Leben und Alltag mit der Pandemie aus Sicht von Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/87962)
Regina Rätz
Professor*in für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin
Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftlicher Wandel, Auswirkungen auf junge Menschen und deren Familien und daraus resultierende professionelle Herausforderungen, narrative Gesprächsführung und rekonstruktives Fallverstehen, Praxisforschung
Kontakt: raetz@ash-berlin.eu
Annika Baumann
Nicole Brattig
Mirjam Knes-Zierold
Canan Lipp
Robert Wirth
Studierende im Masterstudiengang „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“ an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin
Bildquelle: Thandy Young/Unsplash