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Kinderschutz in Zeiten von Corona

Strukturell betrachtet haben ‚Kinderschutz‘ und ‚Alltag in Zeiten der Corona-Pandemie‘ eine grundlegende Gemeinsamkeit: Beide sind durch Ungewissheit und unauflösbare Spannungsfelder gekennzeichnet. Der Kenntnisstand, auf dessen Grundlage Entscheidungen getroffen werden, kann sich jederzeit ändern, Menschen können sich nicht auf Routinen verlassen, sondern brauchen einen Modus der Selbst- und Fremdbeobachtung sowie des auslotenden Handelns.

Der Lockdown sollte die Verbreitung des Virus aufhalten sowie das Gesundheitssystem vor Überlastung (und dadurch die Bevölkerung) schützen. Schrittweise rückten die Nebenwirkungen dieser Entscheidung in den Blick. Der veränderte Alltag erhöhte die Häufigkeit von Gewalt in Familien, erschwerte aber zugleich die Zugänge zu betroffenen Kindern und Jugendlichen. Nach einem leichten Rückgang der Kinderschutzmeldungen in Jugendämtern (vgl. Mairhofer et al. 2020) registrieren Gewaltschutzambulanzen nun eine Zunahme und gesteigerte Brutalität von Gewalt gegen Kinder (vgl. Ärzteblatt.de 2020). Was bedeutet also Kinderschutz in Zeiten der Corona-Pandemie und welche Kinder werden dabei wie geschützt oder Gefahren ausgesetzt? Welche Bedeutung haben Außenkontakte von Kindern und Jugendlichen für einen wirksamen Kinderschutz, und in welcher Relation stehen die Corona-bedingten Maßnahmen zu den entstandenen Zuspitzungen für Kinder und Jugendliche in Familien? Kurz: Welche Nebenwirkungen wurden in den Güterabwägungen über einen Lockdown in Kauf genommen – und welche Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien wurden dabei übersehen?

Die alltägliche Erfahrung in der Pandemie war und ist in hohem Maße abhängig von den sozioökonomischen Ressourcen sowie den Lebens- und Wohnbedingungen der Menschen. Die Belastungen des Lockdown trafen auf unterschiedliche familiäre Wahrnehmungsmuster und Bewältigungsmöglichkeiten. Der für viele Eltern in dieser Ausnahmesituation erhöhte Stresslevel kann sich in ohnehin angespannten Lebenslagen schneller zu einer problematischen Überforderung akkumulieren, womit das Risiko von Kindeswohlgefährdungen steigt. Zugleich sind krisenhafte Zuspitzungen in Familien nicht durchgängig mit klassischen Ungleichheitsformen zu erklären. Ent- und Belastungsphänomene sind auch quer zu den sozioökonomischen Schichten aufgetreten. Während also die Regeln des Lockdowns für alle die gleichen waren, sind die Erfahrungen mit dem Lockdown höchst unterschiedlich. Die Reflexion über Kinderschutz in Zeiten von Corona erfordert daher eine differenzierte Debatte, die diese Unterschiedlichkeiten berücksichtigt.

Als Mitte März weitgehende Einschränkungen und Schließungen für (fast) alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens, auch für die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, in Kraft traten, wurde seitens freier und öffentlicher Träger schnell betont, dass der Kinderschutz aufrechterhalten werde. Eine Reduzierung der Kinder- und Jugendhilfe auf einen Kinderschutz, der nur auf bereits eingetretene Gefährdungen reagiert, wird jedoch Kindern, Jugendlichen und ihren Familien auch in der Corona-Krise nicht gerecht. Kinder können nur im Rahmen eines umfassenden und gestuften Hilfesystems, das Familien unterstützt und Eskalationen vermeiden hilft, geschützt werden. Mehrere Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wurden in der Folge (schrittweise) in allen Bundesländern als ‚systemrelevant‘ (eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff steht noch aus) anerkannt: Der Kitabesuch wurde für einige Kinder wieder ermöglicht, „um das Kindeswohl zu sichern“, erzieherische Hilfen wurden fortgesetzt, Online-Beratungsangebote installiert. Dabei kam es durchaus zu uneinheitlichen Vorgehensweisen und hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit fragwürdigen Abwägungen. Der Prozess zeigte jedoch, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Lage ist, fachlich kompetent deren Einheit darzustellen und politische Akteur:innen vom Konzept eines ganzheitlichen Kinderschutzes zu überzeugen.

Die (erfolgreiche) Umsetzung von Hilfen und Kinderschutz – das hat die Zeit des Lockdowns in besonderer Weise deutlich gemacht – ist auf die Zusammenarbeit mit den Familien angewiesen und muss hierfür werben.

Ebenso deutlich wurde die Bedeutung eines verlässlichen Hilfesystems: Gerade (aber nicht nur) Familien, deren Bewältigungsressourcen bereits vor dem Lockdown erschöpft waren, brauchten in der Krise dringend verlässliche Unterstützung. Es ist somit von Bedeutung, laufende Hilfen fortzuführen und Plätze in Zufluchtsorten, wie Frauenhäusern, ausreichend vorzuhalten – auch unter den schwierigen Bedingungen des Infektionsschutzes. Kontaktabbrüche und plötzlich fehlende Hilfsangebote bergen die Gefahr, dass vermittelt wird, Unterstützung sei am wenigsten verlässlich, wenn sie am dringendsten gebraucht wird. Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrerseits abschotten und Kinder, ihre Bedürfnisse und mögliche Gefährdungen nicht mehr gesehen werden können. Auch in der Krise basieren individuelle Hilfen für Eltern, Kinder und Jugendliche auf Verlässlichkeit, Kontakt und Beziehungsarbeit und können nur gemeinsam mit den Adressat:innen gelingen.

Die Sicherstellung des Kinderschutzes hat die Jugendämter in den vergangenen Monaten vor enorme fachliche und Managementaufgaben gestellt. Während manche Jugendämter sich diesen Herausforderungen offensiv stellten, nahmen andere diese Verantwortung nicht an oder waren hierfür nicht ausgerüstet. Einige Soziale Dienste stellten den Kontakt zu Klient:innen zeitweise ein und delegierten ihn – mit dem Infektionsrisiko – an freie Träger. Anderenorts stellten freie Träger ihre Arbeit ein und erwarteten gleichwohl die Fortführung der Finanzierung. Eine systematische Erfassung dieser Entwicklung steht aus, erste Forschungsprojekte sind auf den Weg gebracht. Die Kinder- und Jugendhilfe hat aber auch viele kreative Beispiele dafür geliefert, wie Kontakt und Vertrauensbeziehungen bei gleichzeitiger Wahrung des Infektionsschutzes gehalten werden können (vgl. www.forum-transfer.de). Verbände, Träger, Fachkräfte und die Disziplin müssen aktiv werden, um solche Lösungen durchzusetzen und zu definieren, was auch unter diesen Ausnahmebedingungen notwendig und möglich ist, um Kinder, Jugendliche und Eltern in den Herausforderungen der Pandemie zu unterstützen und Krisen konstruktiv zu bewältigen.

 

Literatur

Ärzteblatt.de 2020: Mehr häusliche Gewalt und Kindesmisshandlungen im Zuge der Pandemie. [online] 03.07.2020. Hrsg.: Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern) und Kassenärztliche Bundesvereinigung. Berlin & Köln. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114355/Mehr-haeusliche-Gewalt-und-Kindesmisshandlungen-im-Zuge-der-Pandemie (08.07.2020)

Mairhofer, Andreas/Peucker, Christian/Pluto, Liane/Santen, Eric van/Seckinger, Mike (2020):
Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2020/1234_DJI-Jugendhilfebarometer_Corona.pdf (08.07.2020)

 

Zitiervorschlag: Urban-Stahl, Ulrike; Bochert, Susan; Hübenthal, Maksim; Katzenstein, Henriette; Lorenz, Friederike; Zwingmann, Julian (2020): Kinderschutz in Zeiten von Corona. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34114

 

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