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Jugendamtliche Abgrenzungspraktiken während der Covid-19-Pandemie

Im folgenden Beitrag werden einige Ergebnisse des qualitativen Forschungsprojektes ‚Kinderschutz in Zeiten von Corona. Professionelle Entscheidungs- und Urteilsbildung in Jugendämtern im Kontext der Krisenzeit von Covid-19‘ präsentiert. In der zweimonatigen Feldphase wurden insgesamt sieben telefonische Expert*inneninterviews in dem Zeitraum von Mai bis Juli 2020 mit ASD-Fachkräften zweier Jugendämter in Deutschland geführt.

Ein Schwerpunkt der Erkenntnisse liegt in der Abgrenzung der professionellen Fachkräfte zu den Adressat*innen (vgl. Freres et al. 2021). Während die Professionellen die Angst vor Ansteckung wahrnehmen und dementsprechend Maßnahmen zu ihrem Eigenschutz ergreifen können, ist den Adressat*innen solch ein Privileg nicht gegeben. Hausbesuche zur Verdachtsabklärung bei Kindeswohlgefährdung werden trotz Corona weiterhin durchgeführt, doch nun spielt der Eigenschutz und das Infektionsrisiko der Fachkräfte eine besonders exponierte Rolle. Dies geht einher mit Abgrenzungspraktiken der Professionellen zu den Adressat*innen, was sich etwa im folgenden Zitat zeigt. Es wurde nach den Regelungen zum Arbeitsschutz zu Beginn der Pandemie gefragt. Die Fachkraft erwidert darauf:

    „Zu Beginn hatten wir … nichts. Also weder Handschuhe noch Schutzmasken noch Desinfektionsmittel. … Also da war tatsächlich nichts da, das haben wir uns dann privat besorgt alle. Ich mein‘ so Desinfektionsmittel, das hatte eh jeder mal so ein bisschen was im Büro, wenn man nach Gesprächen dann die Hände mal desinfiziert hat, aber nicht in dem Ausmaß, in dem wir es eigentlich gebraucht hätten. Also der Anfang war tatsächlich schon sehr schwer, weil die Einsätze natürlich trotzdem stattgefunden haben, aber halt immer mit einem sehr unguten Gefühl, weil man halt keinen Schutz hatte.“ (ASD B2, Z. 84-90)

Hier wird das Bedürfnis nach Eigenschutz artikuliert, da „zu Beginn“ der Pandemie keine „Schutzartikel“ mehr verfügbar waren. Dies wird sehr dramatisch mit einer Pause und der Assoziation des Besitzes von „nichts“ dargestellt („zu Beginn hatten wir … nichts“). Interessant ist die anschließende Aussage, dass „ein bisschen“ Desinfektionsmittel grundsätzlich sowieso „jeder“ der Fachkräfte vor Ort hat. Dies ist der Fall, damit „man nach Gesprächen dann die Hände mal desinfizieren“ kann und wird als selbstverständlich angesehen („ich mein‘“, „eh“, „jeder“). Das Desinfizieren der Hände wird von der Fachkraft auch nicht weiter erklärt oder gerechtfertigt, was die Lesart erlaubt, dass es sich hier um eine Praxis handelt, die auch vor der Pandemie, zwar im Verborgenen „nach dem Gespräch“, nicht vor den Adressat*innen stattgefunden hat, jedoch der Interviewerin nicht weiter erläutert werden muss, da ein Wissen darüber quasi vorausgesetzt wird. In einer weiteren Lesart ließe sich interpretieren, dass sich die Fachkräfte vor und während der Pandemie die Hände desinfizieren oder andere „Schutzartikel“ verwenden, um das Weitertragen von Viren von einer Adressat*innen-Familie zur anderen zu vermeiden. Der Verweis am Ende der Interviewsequenz („aber halt immer mit einem sehr unguten Gefühl, weil man halt keinen Schutz hatte“) macht jedoch deutlich, dass es sich hier ausschließlich um die Sorge um den eigenen Schutz handelt, die bereits vor der Pandemie bestanden hat und nun durch Corona noch verstärkt wird.

In einem Interview des Standortes A wird nach der Systemrelevanz der Kinder- und Jugendhilfe gefragt. Hier betont die Fachkraft die Wichtigkeit der Kindertageseinrichtungen sowie Schulen, die als soziale Infrastruktur auch Teil der Kinder- und Jugendhilfe und Kooperationspartner dieser sind, deren Bedeutung für die am Kinderschutz beteiligten Fachkräfte jedoch scheinbar in der Pandemie an Stellenwert zugenommen hat. Hinsichtlich der Notbetreuungen berichtet sie:

  • Und ja, in Bezug auf die Familien, also wir forcieren die Notfallbetreuung. Nicht nur für die systemrelevanten Bürger und Bürgerinnen, sondern halt auch im Wesentlichen für die Kinder, wo wir sagen, da gibt es einen Bedarf, also die entweder schon eine Hilfe zur Erziehung erhalten und man die Familien schon aus dem Hilfeverlauf kennt und man sagt, da wäre es sinnvoll und gut, wenn die Familien den Kindergartenbesuch, sag ich mal, in Anspruch nehmen in diesen Notfallgruppen.“ (ASD A2, Z. 51-56)

Hier wird deutlich davon gesprochen, dass die Notfallbetreuung für die Adressat*innen „forciert“ wird. Der Begriff „forcieren“ kann hier so gelesen werden, dass die Fachkräfte mit großer Anstrengung darum bemüht sind, den Adressat*innen Betreuungsplätze in Tageseinrichtungen anbieten zu können, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, prekären Lebensverhältnissen zumindest partiell zu entfliehen. Gleichzeitig sind die Familien damit aber auch „im Blick“ der Fachkräfte, da andere Bereiche des kontrollierenden Familienüberwachungsapparates (vgl. Freres/Bastian/Schrödter 2019) wegfallen. Die Bedeutung der Notbetreuung der Kindertagesstätten scheint demnach zuzunehmen. Gezielt werden hier die Adressat*innen angesprochen, bei denen bereits ein „Bedarf“ diagnostiziert wurde und die auch „schon aus dem Hilfeverlauf“ bekannt sind.

In folgendem Interviewausschnitt wird eine Ambivalenz zwischen der Betonung von Gemeinsamkeiten und der Abgrenzung besonders deutlich. Der Interviewte wird nach der momentanen Situation hinsichtlich Gefährdungs- und Risikoeinschätzungen im Kinderschutz gefragt und antwortet mit einem Fallbeispiel:

  • „Ich find‘ gerade auch der Bildungsnachteil durch geschlossene Schulen, ich weiß nicht, ob der aufgefangen wird oder wie der aufgefangen wird. Das ist glaub ich auch ‘ne ganz schwierige Situation, weil alle Familien ja auch von zuhause aus, also ich mein, ich kenn’s jetzt selber auch von uns, ja irgendwie den Lernstoff, die Lerninhalte vermitteln müssen. Und ähm ich sag mal wir sind da gut aufgestellt, wir haben die Peripherie, wir haben den Drucker, wo wir die Arbeitsblätter drucken können, wir haben das Verständnis und die Fähigkeiten, sag ich mal, unserer Tochter irgendwie das kindgerecht das Ein-mal-Eins zu erklären. Und wenn ich das jetzt, sag ich mal, auf die Jugendhilfe beziehe, wo wir Familien haben, die, ja, einfach einen erhöhten Bedarf haben an Betreuung, an Unterstützung, dann glaub ich, dass die auch schon so ein Stück weit allein gelassen sind und auch die Kinder da vor Ort, die dann halt nicht angemessen von ihren Eltern irgendwie Zuhause gefördert werden können, ja weil die dann den Lernstoff halt nicht so vermittelt bekommen, wie das in ‘ner Schule wäre.“ (ASD A2, Z. 85-97)

Der Interviewte geht auf die Relevanz der Schulen ein und verweist zunächst einmal auf die gemeinsam geteilte schwierige Situation aller Familien, wobei er die Aufmerksamkeit schnell auf seine persönliche Situation richtet („also ich mein, ich kenn’s jetzt selber auch von uns“). Danach wird dann aber differenziert, indem er unterstreicht, dass er und seine Familie „da gut aufgestellt“ mit der passenden „Peripherie“ sind, in der der „Drucker“ für die „Arbeitsblätter“ von enormer Wichtigkeit zu sein scheint. Weiter geht er auf sein eigenes „Verständnis“ und die „Fähigkeiten“ ein, die benötigt werden, um die Kinder so zuhause fördern zu können, „wie das in ‘ner Schule wäre.“ Er stellt sich als Schablone des ‚Normalen‘ dar und betont dabei seine Fähigkeiten, die er mit denen der Lehrer*innen gleichstellt. Die Familien mit „erhöhtem Bedarf an Betreuung, an Unterstützung“ verfügen seiner Meinung nach nicht über solche Fertigkeiten und haben Probleme mit einer solchen Situation, weshalb zuhause keine Förderung stattfindet und die „Kinder da vor Ort“ als „alleingelassen“ betitelt werden. Was einerseits als Teil einer erweiterten Kinderschutzlogik gedeutet werden kann, in der eben auch der Bildungsverlauf der Kinder kritisch in den Blick gerät, ist anderseits auch eine klare Abgrenzung des selbst verkörperten Normalitätsverständnisses zu der ressourcenarmen Lage der Adressat*innen. Dabei relativiert er auch den anfangs beschriebenen Aspekt, dass Corona eine Krise ist, die die gesamte Gesellschaft bewältigen muss. Für die Fachkraft scheinen die individuellen Fähigkeiten sowie die damit einhergehende Responsibilisierung der Adressat*innen mehr im Fokus zu stehen.

Die Fachkräfte, soviel ist an den wenigen Beispielen deutlich geworden, befinden sich durch die Pandemie in einer ambivalenten Situation und lavieren zwischen der Reflexion von Gemeinsamkeiten und Abgrenzungstendenzen gegenüber den Adressat*innen. Diese Beobachtungen ließen sich womöglich auch in anderen professionellen Arbeitsfeldern machen. Die Professionellen lassen durch verschiedene Abgrenzungspraktiken eine hierarchische Ordnung entstehen, in denen sie als fähige Personen über den Familien stehen, die in Abgrenzung zu ihnen Hilfe und Unterstützung benötigen. Hier zeigt sich ein gesellschaftliches Strukturproblem, welches sich gesamtgesellschaftlich entfaltet und immer wieder reproduziert.

Der pandemiebedingte Wegfall des Familienüberwachungsapparats bringt die Fachkräfte nun weiter in eine Krise, die sie damit bewältigen, bestimmten Familien die ‚Überwachung“ in einer Notbetreuungseinrichtung anzuraten und zu vermitteln. Neben der Abgrenzungspraktik verschiebt sich nun das Hilfsangebot immer weiter zur Kontrollinstanz. An anderer Stelle wurde bereits herausgearbeitet, dass Hilfen zur Erziehung durch die damit einhergehende Bedarfsermittlung grundsätzlich Stigmatisierungseffekte für die Adressat*innen haben (vgl. Thalheim/Freres/Schrödter 2020; Schrödter/Freres 2019). Auch wenn dies nicht auf die individuellen Einstellungen und Haltungen der Fachkräfte zu reduzieren ist, verstärkt Corona die Stigmatisierungseffekte für Adressat*innen der Sozialen Arbeit sowie weiterer Personengruppen, die sich das Privileg des Eigenschutzes nur bedingt leisten können. In der Pandemie vergrößert sich die Kluft zwischen privilegierten und weniger privilegierten Menschen immer weiter und wir verfügen in der Sozialen Arbeit bislang noch nicht über angemessene Strategien, dieser Tendenz zu begegnen. Dieser Entwicklung muss sich die Soziale Arbeit zukünftig unbedingt stellen.

Literatur

Freres, Katharina/Bastian, Pascal/Schrödter, Mark (2019): Jenseits von Fallverstehen und Prognose – wie Fachkräfte mit einer einfachen Heuristik verantwortbaren Kinderschutz betreiben. Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 49 (2), 140–164.

Freres, Katharina/Benoit, Megan/Posmek, Jana/Benkel, Christopher/Grüßert, Nina/Bastian, Pascal (2021): Urteilsbildung und Entscheidungsfindung von ASD-Fachkräften in der Covid-19-Krise. Soziale Passagen. Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit, https://doi.org/10.1007/s12592-021-00373-6 (letzter Zugriff: 28.7.21).

Schrödter, Mark/Freres, Katharina (2019): Bedingungslose Jugendhilfe. Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 49 (3), 221–233.

Thalheim, Vinzenz/Freres, Katharina/Schrödter, Mark (2020): Stigmatisierungseffekte erzieherischer Hilfen. Lavieren zwischen Familie und Fall-Familie. In Cloos, Peter/Lochner, Barbara/Schoneville, Holger (Hrsg.): Soziale Arbeit als Projekt. Konturierungen von Disziplin und Profession. Wiesbaden: Springer VS, S. 337-348.

 

Zitiervorschlag: Grüßert, Nina; Freres, Katharina; Bastian, Pascal (2021): Jugendamtliche Abgrenzungspraktiken während der Covid-19-Pandemie. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/38704

 

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