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Häusliche Gewalt in Zeiten von Covid-19

Häusliche Gewalt, die seit mehr als 40 Jahren in der Frauenhausbewegung öffentlich thematisiert und in Anlehnung an den englischsprachigen Begriff Domestic Violence in Deutschland als Gewaltstraftat zwischen Personen in einer partnerschaftlichen Beziehung verstanden wird (vgl. Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport/Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes 2005), wurde angesichts der Covid-19-Pandemie zunehmend zu einem öffentlichen Thema in den Medien und der Politik. Die Befürchtung, dass die Gewalttaten in Partnerschaften angesichts des weltweiten Lockdowns massiv ansteigen könnten, erwies sich dabei alsbald als realistische Einschätzung (vgl. OECD 2020; Du Qiongfang, 2020). Dass es weiterhin zu innerfamiliärer Gewalt in der ersten Phase der Corona-Krise kam, zeigten auch die Ergebnisse einer hinsichtlich Alter, Bildungsstand, Einkommen, Haushaltsgröße und Wohnort für Deutschland repräsentativen Studie (vgl. Steinert/Ebert 2020). Darüber hinaus verdeutlichen auch die jährlichen Hellfelddaten des Bundeskriminalamts (vgl. BKA 2019), dass Gewalt gegen Frauen als zunehmendes gesellschaftliches Problem verstanden werden sollte.

Der mediale Hype hinsichtlich der Thematik der Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie die Sorge einzelner Politiker*innen – Bundesfamilienministerin Giffey warnte angesichts des Anstiegs von Beratungen beim bundesweiten Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen davor (vgl. ZDF), dass die soziale Isolation zu einem Anstieg häuslicher Gewalt führen könnte, wodurch insbesondere Frauen und Kinder gefährdet seien – , darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frauen der zweiten Frauenbewegung bereits seit Ende der sechziger Jahren mehr oder minder erfolgreich versuchen, das Tabu der Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen durch Öffentlichkeits- und politische Arbeit zu brechen („das Private ist politisch“). Darüber hinaus haben sich Frauenhausmitarbeiter*innen seit den siebziger Jahren durch Schutz-, Beratungs- und Unterstützungsangebote engagiert, um der häuslichen Gewalt präventiv und intervenierend zu begegnen. Sie haben bereits vor der Corona-Krise und der damit verbundenen Isolation verdeutlicht, dass die eigenen vier Wände, die (derzeit) den zuverlässigsten Schutz vor dem Virus bieten, für viele Frauen und ihre Kinder keinen sicheren Ort darstellen. Bereits in der ersten und bisher einzigen repräsentativen Studie zur Gewalt gegen Frauen (BMFSFJ 2004) gaben 25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen zwischen 16 und 85 Jahren an, körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren aktuellen oder einen früheren Lebenspartner erlebt zu haben.

Angesichts der Covid-19-Krise wurde somit nur ein alt bekanntes Problem erneut deutlich, dass das Auftreten von Gewalt in Familien zwar durch spezifische Beziehungsdynamiken und durch Stressoren wie Armut, Schließung von Kitas und Schulen, räumliche Enge, Ängste vor Krankheit und drohender Arbeitslosigkeit begünstigt werden. Häusliche Gewalt kann als Symptom einer belasteten Lebenssituation verstanden werden (vgl. Thun-Hohenstein 2008), andererseits aber auch als strukturelle Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen verstanden werden muss.

So fehlt es bis heute an sozialpolitischen Maßnahmen und gesellschaftlichen Strukturbedingungen, die einen Beitrag dazu leisten, bestehende ungleiche Geschlechter- und Generationenverhältnisse zu verändern, um der Gewalt angemessen begegnen zu können. Dazu gehört, angesichts der Ratifizierung der Istanbul Konvention durch die Bundesregierung auch, den generellen Mangel an Frauenhausplätzen in Deutschland zu beheben – es fehlen in Deutschland rund 4.250 Frauenhausbetten oder 3.180 Frauenhauszimmer (vgl. ZIF 2017) – sowie die zum Teil unzureichenden räumlichen, finanziellen und personellen Ressourcen in den Frauenhäusern zu verbessern. Verwunderlich ist daher auch nicht, dass neben einem nach wie vor bestehenden Aufklärungs- und Informationsdefizit hinsichtlich der Problematik der häuslichen Gewalt und vorhandener Beratungs-, Interventions- und Schutzeinrichtungen, gewaltbetroffene Frauen mit ihren Kindern in diesen Krisenzeiten einen Frauenhausaufenthalt nicht für sich erwogen haben bzw. durch die häusliche Isolation auch keine Gelegenheit zur Flucht hatten. Abstands- und Hygieneregelungen erschwerten die Situation für Frauenhausbewohner*innen sowie Mitarbeiter*innen. Vielerorts mussten daher auch alternative Unterbringungsmöglichkeiten gesucht und angemietet werden (z. B. leerstehende Appartements, Pensionen, Hotels), um der in den Frauenhäusern herrschenden Enge und Nähe zu anderen Personen in Corona-Zeiten angemessen begegnen zu können und das Infektionsrisiko zu senken.

Festzustellen bleibt, dass häusliche Gewalt in vielfältiger Weise Einfluss auf die gesamte Familiendynamik nehmen kann und Frauen aufgrund ihres Geschlechts, traditioneller Geschlechterverhältnisse und Rollenvorstellungen besonderen Gewaltrisiken ausgesetzt sind. Zudem begünstigt häusliche Gewalt auch elterliche Erziehungsüberforderung und kann zu mangelnder Fürsorge, Bindungsunfähigkeit bis hin zur Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung führen. Deshalb ist es von Bedeutung, dass die in diesen Familien aufwachsenden Kinder und Jugendlichen frühzeitig Schutz und Unterstützung erfahren, um die intergenerationelle Weitergabe von Gewalt zu verhindern. Dabei ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Partner*innen und Institutionen (Jugendhilfe, Schule, Frauenhäuser, etc.) ein besonders wichtiger Faktor, um die Betroffenen in einem Netzwerk zu begleiten (vgl. Henschel 2019).

Literatur:

Bundeskriminalamt (2019). Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2018. https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2018.html[Zugriff:14.01.2020].

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2004). Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Berlin.

Du Qiongfang, S. (2020). Chinese families see surge in domestic violence amid COVID-19 lockdown. In: Global Times Published. https://www.globaltimes.cn/content/1182484.shtml [Zugriff: 03.10.2020].

Henschel, A. (2019). Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben. Das Frauenhaus als entwicklungsunterstützende Sozialisationsinstanz. Opladen: Budrich Verlag.

Ministerium für Inneres, Familie, Frauen und Sport / Koordinationsstelle gegen häusliche Gewalt beim Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes (2005). Handlungsrichtlinien für die polizeiliche Arbeit in Fällen häuslicher Gewalt. Saarland.

OECD (2020). Women at the Core of the fight against Covid-19 Crisis. https://www.oecd.org/coronavirus/policy-responses/women-at-the-core-of-the-fight-against-covid-19-crisis-553a8269/  [Zugriff: 03.10.20].

Steinert, J./ Ebert, C. (2020). Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland

während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen: Zusammenfassung der Ergebnisse. https://www.kriminalpraevention.de/files/DFK/Praevention%20haeuslicher%20Gewalt/2020_Studienergebnisse%20Covid%2019%20HGEW.pdf [Zugriff: 22.09.20].

Thun-Hohenstein, L. (2008). Folgen von Gewalt am Kind. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, 156, S. 635-643.

ZDF 2020: Kontaktverbot wegen Corona – Erhöhtes Risiko für häusliche Gewalt. https://www.zdf.de/nachrichen/panorama/coronavirus-herausforderungen-hauesliche-gewalt-100.html [Zugriff: 03.10.20].

Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäuser (ZIF). Die Istanbul Konvention. https://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/de/content/die-istanbul-konvention [Zugriff: 03.10.2020].

 

Zitiervorschlag: Henschel, Angelika (2020): Häusliche Gewalt in Zeiten von Covid-19. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://sozpaed-corona.de/haeusliche-gewalt-in-zeiten-von-covid-19/)

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