In der Nachfolge der Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1948 etablierte sich ein umfassendes, sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Mit diesem Verständnis wurde und wird die Gesundheitsrelevanz der Sozialen Arbeit sichtbar. Das erweiterte Gesundheitsverständnis fußt dabei auf folgenden Prämissen:
- Das Krankheitsgeschehen ist von einer neuen Morbidität geprägt, die weniger durch akute Infektionskrankheiten als durch chronisch-degenerative Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Atemwegserkrankungen und Allergien, durch eine Zunahme psychischer Erkrankungen sowie durch eine neue Bedeutung gesundheitsgefährdender Lebensstile und Verhaltensweisen charakterisiert ist.
- Die Veränderungen im Krankheitsspektrum haben dazu geführt, dass das biomedizinische Modell von Gesundheit und Krankheit zunehmend hinterfragt worden ist. Die damit verbundene pathogenetische Perspektive wurde um die von Antonovsky ausgehende „salutogenetische“ Perspektive erweitert, nach der sich Herstellung und Erhaltung von Gesundheit nicht in der Krankheitsbekämpfung und -vermeidung erschöpfen, sondern dass Prozessen der „Salutogenese“ eine eigenständige Relevanz im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen zukommen. Die Förderung von Gesundheit wird seither zu einer eigenständigen, wenn auch ambivalenten Aufgabe, die sich zwischen der individuellen Zuschreibung von Verantwortung für die eigene Gesundheit und der Herstellung gesundheitsförderlicher und -gerechter Lebensbedingungen bewegt.
- Die Abhängigkeit der Gesundheit von den jeweiligen Lebensbedingungen hat deutlich gemacht, dass Gesundheit eng mit sozialen Fragen verschränkt ist. Zahlreiche Studien haben inzwischen den Zusammenhang von sozialen Chancen und gesundheitlichen Chancen belegt. Soziale Benachteiligungen, Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung gehen demnach mit statistisch nachweisbaren höheren Gesundheitsbelastungen einher. Dies hat zur Folge, dass Aktivitäten der Sozialen Arbeit, die soziale Chancen verbessern, neben der sozialen auch eine gesundheitliche Wirkung entfalten.
Die Ausbreitung des Corona-Virus hat dieses erweiterte Verständnis von Gesundheit und Krankheit in Frage gestellt. Das Aufkommen einer bisher nur schwer kontrollierbaren globalen Pandemie überschattet das Bild des veränderten Krankheitsgeschehens und ruft Virolog*innen, Epidemiolog*innen und Simulationsmathematiker*innen auf den Plan. Die globale Pandemie bringt zum Vorschein, dass Globalisierung und transnationale Verflechtungen neuartige Gesundheitsrisiken in sich bergen, gegen die die reflexartige Abschottung im Nationalen und Lokalen als relativ hilflose Gegenstrategie erscheint. Die „neuen Morbiden“ werden im Zuge der Pandemie zu besonderen Risikogruppen, die in spezifischer Weise zu schützen sind, was zum Teil zu massiven Beschränkungen im Alltagsleben von Pflegebedürftigen und chronisch Kranken geführt hat.
Die gegenwärtige globale Gesundheitskrise erinnert daran, dass akute Infektionskrankheiten keineswegs an Bedeutung verloren haben und dass deren Risiken unterschätzt worden sind, was sich in der mangelnden Vorbereitung zahlreicher Gesellschaften auf den Ausbruch einer Pandemie offenbart hat. Schnelle und zum Teil gravierende Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der weiteren Ausbreitung des Virus waren unverzichtbar. Deren Notwendigkeit kann man an der Situation derjenigen Länder und Regionen ablesen, die von der Pandemie in einer frühen Phase unvorbereitet getroffen wurden (z.B. Italien) oder die zögerlich und inkonsistent auf die Krankheitswelle reagiert haben (z.B. USA, Brasilien). Die enormen wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen der Gegenmaßnahmen gegen die Covid-19-Erkrankung haben jedoch ebenfalls gesundheitliche Auswirkungen, was eine Rückbesinnung auf das erweiterte Verständnis von Gesundheit und Krankheit dringend erforderlich macht.
Die Verbreitung des neuen Virus ist dadurch gekennzeichnet, dass die überwiegende Zahl der Infektionen asymptomatisch verläuft, während zugleich einzelne schwere Verläufe zu einer im Vergleich zu anderen Infekten relativ hohen Mortalitätsrate führen. Studien der Psychoneuroimmunologie verweisen auf den Zusammenhang zwischen Psyche, Gehirn und Immunsystem, der dazu führt, dass Angst, chronischer Stress und die Einschränkung sozialer Beziehungen das Immunsystem beeinträchtigen und das Erkrankungsrisiko erhöhen. Die mit den Schutzmaßnahmen verbundene massive Steigerung der Arbeitslosigkeit und der Angst vor Arbeitsplatzverlust, das Zusammenleben von Familien in engen Wohnräumen bei stark verminderten Außenbezügen, die Verhinderung sozialer Kontakte bei Pflegebedürftigen und chronisch Kranken führen demnach trotz der Intention der Krankheitsvermeidung zu einer Erhöhung von Gesundheitsrisiken. Die österreichischen Gewaltschutzzentren vermelden eine markante Zunahme an Beratungen und Betretungsverboten infolge von häuslichen Konflikten und Gewaltvorkommnissen. Und die Besuchsverbote im Bereich der Pflege bringen nicht nur bei Pflegebedürftigen, sondern auch bei Angehörigen psychische Belastungen mit sich, die die Lebensqualität und das Wohlbefinden reduzieren. Der Sozialmediziner Sprenger geht in der Gesamtbetrachtung davon aus, dass durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Österreich mehr gesunde Lebensjahre verloren gehen als durch die Pandemie selbst.
Die skizzierten Entwicklungen unterstreichen die Notwendigkeit eines umfassenden, sozialen Blicks auf Gesundheit. Zugleich wird sichtbar, dass Soziale Arbeit das Potential hat, bis in die Immunkonstitution hinein gesundheitliche Wirkungen zu erzeugen. Erfreulich ist in dem Zusammenhang, dass im gesamten Feld der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Österreich bis heute kein einziger positiv getesteter Covid-19-Fall zu verzeichnen ist. Für ein am biopsychosozialen Wohlbefinden orientiertes Leben mit bedingter Gesundheit, das sich auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit bewegt, kann eine gesundheitssensible Soziale Arbeit in ihren unterschiedlichen Handlungsfeldern wichtige Beiträge liefern. Die Corona-Krise hat uns an die historische sozialhygienische Einsicht erinnert, dass dies selbstverständlich auch für Infektionskrankheiten gilt.
Zitiervorschlag: Sting, Stephan (2020): Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit im Infekt. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33944
Professor*in für Sozial- und Integrationspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Arbeitsschwerpunkte: Sozialpädagogische Bildungsforschung, Sozialpädagogik im Kindes- und Jugendalter, Soziale Arbeit und Gesundheit
Kontakt: Stephan.Sting@aau.at