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Die neue Mitleidsökonomie im Angesicht der Covid-19-Pandemie

Der Vorsitzende des größten bundesdeutschen Dachverbandes mitleidsökonomischer Angebote stellt bereits in den Tagen vor dem faktischen shutdown aufgrund der Covid-19-Pandemie einen direkten Zusammenhang her: Die Hamsterkäufe hätten direkte „Auswirkungen auf die Versorgung mit Lebensmitteln bei den Tafeln in Deutschland“, so berichtet die Neue Osnabrücker Zeitung am 9. März 2020 in Bezug auf Äußerungen Jochen Brühls, der von der Zeitung anschließend mit den Worten zitiert wird: „Mehrere Tafeln haben zum Teil deutlich weniger Lebensmittel erhalten.“ Das führe Brühl, so die Zeitung weiter, auf „die Vorratskäufe“ zurück, „die derzeit viele Menschen angesichts der Corona-Pandemie tätigen“. So bleibe am Ende weniger Ware, „die Supermärkte den Tafeln spenden können“. Daher appelliere der Vorsitzende der Deutschen Tafel e.V. an die „Hamsterkäufer“: „Wer merkt, dass er doch zu viele lang haltbare Vorräte gekauft hat, kann sich gerne an die Tafel in seiner Stadt wenden.“

Diese Presseberichterstattung und die darin veröffentlichte Stellungnahme sind in mehrerer Hinsicht symptomatisch für den Zusammenhang von Corona und neuer Mitleidsökonomie. (1.) Die soziale Dimension des gegenwärtigen Notzustandes wird vor allem anhand der (potenziellen) Tafel-Nutzer:innen illustriert: Gerade arme Menschen könnten „sich große Vorratskäufe gar nicht leisten“, heißt es entsprechend in der Neuen Osnabrücker Zeitung weiter. Diese armen Menschen sind offensichtlich die Nutzer:innen der Tafeln, für die Brühl hier sprechen möchte.

Es sollte an sich unstrittig sein, dass die veränderten Anforderungen an die Armutsbekämpfung in einem etablierten Sozialstaat nicht von einem Verein, der vor allem Lebensmittelspenden sammelt und diese als Almosen in unterschiedlicher Art und Weise an Menschen weitergibt, gewährleistet werden können. Gerade deshalb ist aber die Selbstverständlichkeit, in der die Deutsche Tafel e.V. in der gegenwärtigen Situation als Stimme für arme Menschen zitiert wird, irritierend. Schließlich verfügt der Verein weder über ein Mandat von Seiten der Nutzer:innen noch über einen öffentlichen Auftrag zur Armutsbekämpfung, wie dies im Fall personenbezogener sozialer Dienstleistungsangebote, wie der Sozialen Arbeit, der Fall ist.

Mit dem Zusammenhang, den der Vorsitzende der Deutschen Tafel e.V. zwischen den so genannten Hamsterkäufen und dem Spendenaufkommen für die lokalen Tafeln herstellt, wird das mitleidsökonomische Grundprinzip (2.) als gegeben vorausgesetzt: Die Akquise und das Einsammeln von Spenden in Form von Elementargütern zur Weitergabe an bedürftige Menschen, die sich damit in der Rolle der Almosenempfänger:innen wiederfinden. Doch sollte nicht die gewachsene soziale Not von Menschen im Angesicht der Covid-19-Pandemie gerade darauf aufmerksam machen, dass der Boom mitleidsökonomischer Angebote auf strukturelle Defizite der sozialstaatlichen Armutsbekämpfung verweist, die auch bereits vor Corona bestanden haben? Im sozialstaatlichen Kontext ist die Vermeidung und Bekämpfung von Armut öffentlicher Auftrag und kann daher nicht dem privaten Engagement überlassen werden – sei dieses nun von einem bundesweit aktiven Dachverband mitleidsökonomischer Angebote organisiert oder spontan als lokale Nachbarschaftshilfe. Akute Not in Zeiten eines lockdown, mit dem auch die Zugänge zur öffentlichen Infrastruktur wegbrechen – z.B. zur kostenfreien oder kostengünstigen Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen in Kitas, Schulen und Universitäten – macht Nothilfe unter Umständen notwendig. Doch Nothilfe bleibt Nothilfe. Armutsbekämpfung kann z.B. die Versorgung mit Lebensmittelspenden nicht leisten. Daher ist auch an dieser Stelle nicht die Evidenz zitierter oder paraphrasierter Aussagen in einer Pressemitteilung von Bedeutung, sondern die in solchen Statements sichtbar werdende grundlegende Veränderung, die sich mit der Etablierung der neuen Mitleidsökonomie im 21. Jahrhundert in Sachen sozialstaatlicher Armutsbekämpfung vollzogen hat.

Als „neue Mitleidsökonomie“ werden Organisationen, wie Tafeln, Suppenküchen oder Kleiderkammern, zusammengefasst, die seit Ende des 20. Jahrhunderts in fast allen OECD-Staaten eine immense Konjunktur erfahren haben. Innerhalb der neuen Mitleidsökonomie werden alleine im bundesdeutschen Kontext inzwischen Millionen von Menschen, primär auf Spendenbasis, mit Elementargütern versorgt. Auf diese Gaben (v.a. Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgegenstände) besteht allerdings kein Recht wie im Fall regelhafter sozialrechtlicher Sicherungs-, Versorgungs- und Dienstleistungsleistungen. Ganz im Gegenteil: Die Nutzer:innen mitleidsökonomischer Angebote sind von der Loyalität der Helfer:innen und der Spendenbereitschaft der Geber:innen abhängig. Dieses Abhängigkeitsverhältnis prägt daher auch das Erbringungsverhältnis zwischen Helfer:innen und Nutzer:innen. Dennoch wird die die absolute Mehrheit entsprechender Angebote von etablierten Trägern sozialstaatlicher Leistungen (v.a. Wohlfahrtverbänden) getragen oder ist an diese organisational angebunden.

Die spendenbasierten Leistungen zur basalen Bedürfnisbefriedigung im Rahmen der neuen Mitleidsökonomie werden neben und hinter sozialrechtlich garantierten Leistungen aufgebaut. Das Phänomen der neuen Mitleidsökonomie steht daher im Kontext einer Dynamik, mit der bisherige sozialstaatliche Leistungsrechte geschwächt, ausgehöhlt oder deren Erbringung aus dem öffentlichen in den privaten Erbringungsbereich verlagert werden.

Es ist daher auch kein Zufall, dass die neue Mitleidsökonomie in einer historischen Phase etabliert wurde, in der die Einkommen am unteren Ende der Verteilungskurve nicht nur gesunken sind, sondern die Differenz zwischen dem unterem und oberen Ende dieser Kurve in Deutschland in einer bisher ungeahnten Art und Weise auseinanderklaffen. Auch ist seit Mitte der 1990er Jahre ein über die Zeit kontinuierlicher Anstieg der Armutsrisikoquote zu beobachten.

Der Blick auf den Schatten des Sozialstaats ist notwendig, um die anhaltende grundlegende Transformation sozialstaatlicher Armutsbekämpfung begreifen zu können. Doch die sozialstaatliche Schattenfunktion der neuen Mitleidsökonomie ist in der öffentlichen Wahrnehmung bisher weitgehend unbeobachtet geblieben, was erstens damit erklärt werden kann, dass hier auf ehrenamtliches resp. zivilgesellschaftliches Engagement zurückgegriffen wird, das traditionell – gerade in konservativen Wohlfahrtsregimen wie in Deutschland oder Österreich – gegenüber institutionalisierten Dienstleistungen positiv überhöht wird; zweitens haben die institutionalisierten sozialstaatlichen Unterstützungsstrukturen seit den ‚langen 1960er Jahren‘ berechtigterweise viel Kritik erfahren.

Die Corona-Situation könnte für diese Entwicklungen sensibilisieren. Dabei könnten auch die selbstkritischen Töne der vergangenen Jahre, vor allem aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände aufgenommen werden: „Tafeln sind keine Antwort auf strukturelle Armut“, so z.B. der Diakonie-Präsident Lilie im Februar 2018 (vgl. Beiträge in neue caritas, Heft 4/2015 und Erklärung der Spitzenverbände gemeinsam mit Deutsche  Tafel e.V. 2018: „Soziale Gerechtigkeit schaffen – Gemeinsam gegen Armut und Ausgrenzung“). Der Ruf nach weiterer staatlicher Unterstützung für die mitleidsökonomischen Angebote, wie er vom Vorsitzenden der Deutsche Tafel e.V. mit Verweis auf die Covid-19-Pandemie am 2. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung formuliert wird – „Ohne finanzielle Unterstützung des Staates werden die Tafeln mittelfristig Schwierigkeiten bekommen, ihre Aufgaben zu bewältigen“ (vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 2020) – widerspricht allerdings dieser selbstkritischen Reflexion und der damit verbundenen Forderung nach einer nachhaltigen sozialstaatlichen Armutsbekämpfung.

Zitiervorschlag: Kessl, Fabian (2020): Die neue Mitleidsökonomie im Angesicht der Covid-19-Pandemie  In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33919

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