- Zur sozial-ökologischen Tragweite der Covid-19-Pandemie
Die gegenwärtige Corona-Krise betrifft über medizinische Fragestellungen hinaus die sozialen und ökologischen Dimensionen der menschlichen Existenz. Um die Covid-19-Pandemie adäquater und vielschichtiger erfassen zu können, schlagen wir vor, sie entlang der Konzepte einer sozial-ökologischen Sozialen Arbeit (green social work) (Dominelli, 2012; Erikson, 2019), nachhaltiger Wohlfahrtssysteme (sustainable welfare) (Büchs & Koch, 2017) und einer Sozialpädagogik der Nachhaltigkeit zu betrachten (Böhnisch 2019). In diesem konzeptionellen Kontext werden zum einen die direkten sozial-ökologischen Auswirkungen der Pandemie klarer benennbar. Zum anderen verdeutlichen diese Modelle auf einer systemischen Ebene die sozial-ökologischen Grenzen des Wachstums und der gegenwärtig hegemonialen Lebensweise sowie die tiefe Krise des vorherrschenden neoliberalen Gesellschaftsmodells (Koch & Büchs, 2017; Jackson, 2016; Paech, 2012). Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, für eine Zeit nach der Covid-19-Pandemie weit über ein ‚zurück zur Normalität‘ hinaus zu denken. Stattdessen müssten gerechtere und nachhaltigere Wirtschafts- und Wohlfahrtssysteme geschaffen werden, die in der Lage sind, sozial-ökologische Krisen nachhaltiger zu lösen und wirksamer zu verhindern (Koch & Mont 2016).
- Die sozial-ökologischen Auswirkungen der Corona-Krise
Im sozial-ökologischen Paradigma werden Lebensführung und Ökologie als interdependente Sphären betrachtet (Dominelli, 2012; Erikson, 2019). Mit Bezug auf diese Ansätze bewerten wir die Covid-19-Pandemie als eine sich global ausbreitende Umweltkatastrophe mit komplexen sozialen Auswirkungen und Interventionsformen. Das Konzept der sozial-ökologischen Gerechtigkeit (environmental justice) verweist dabei auf eine notwendige faire Balance zwischen umweltbezogenen Rechten und Pflichten in Bezug auf die verschiedenen klassenbezogenen, ethnischen und geschlechter- und altersbezogenen Differenzlinien (Dominelli, 2012).
In verschiedenen Ländern und Regionen wurden unterschiedliche Reaktionsformen auf die Pandemie entwickelt. Dieser Beitrag betrachtet vor allem die Situation in Deutschland. Die Schutzmaßnahmen des gesellschaftlichen Lockdowns haben zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen geführt, bei der Lasten und Pflichten nicht immer gerecht verteilt werden. Insbesondere in Bezug auf Wohnen, Zugang zu naturbezogenen Erholungsräumen und Freizeit, aber auch in Bezug auf Sorgetätigkeiten, Pflege und Gesundheitsversorgung, Bildung, soziale Absicherung, Gestaltung von Arbeitssituationen und den Zugang zu Kultur zeigt sich, dass sich die bereits bestehenden Spaltungen zwischen den Bevölkerungsgruppen eher verschärft haben. Mit dem Lockdown einher geht eine stärkere Individualisierung und Familialisierung von Verantwortung und Daseinsvorsorge. Gerade marginalisierte Personengruppen sind diesen Entwicklungen besonders vulnerabel ausgesetzt.
- Die systemischen Dimensionen der Corona-Krise
Sozial-ökologische Ansätze fragen jedoch nicht nur nach der individuellen Bewältigung von schwierigen Lebenslagen, sie thematisieren auch das Verhältnis des Menschen zur Ökologie und damit auch die hegemonialen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen. Hier verdeutlicht Lothar Böhnisch (2019, 25) das Problem einer ungerechten Externalisierung von Risiken, die sowohl in unserer Wirtschaftsweise, etwa in Bezug auf Schadstoffe, der Ressourcenausbeutung, der Auslagerung von Kosten und der Aneignung von Gewinnen, als auch bei Reproduktions- und Sorgetätigkeiten, die noch immer stärker weiblich konnotiert werden oder auf Personal aus einkommensschwächeren Gesellschaftspositionen bzw. globalen Regionen übertragen werden, feststellbar ist. Diese Externalisierungen sind an ein neoliberales Modell des Wirtschaftens und Arbeitens gekoppelt. Dieses legitimiert die Ideen des grenzenlosen Wirtschaftswachstums, die Notwendigkeit einer Steigerungs- und Beschleunigungslogik in allen Lebensbereichen, die irreversiblen Eingriffe in Ökosysteme und den globalen Wettbewerb mit einer Unterbietung von sozialen und ökologischen Standards ideologisch (Koch & Büchs, 2017; Koch & Mont, 2016).
- Die Corona-Krise und die Soziale Arbeit
Wie müsste sich eine sozial-ökologische Soziale Arbeit in dieser Situation positionieren? Für die Bewältigung der akuten Probleme und Herausforderungen sollten zunächst die Angebote der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge im Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Kulturbereich aufrechterhalten und adäquat ausgebaut werden. Hier gibt es bereits viele kreative und innovative Beispiele von verschiedenen Trägern und Organisationen. Vor allem marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, Wohnungslose, psychisch Erkrankte, Menschen mit Suchterkrankung oder Menschen und Familien mit geringem Einkommen werden hier jedoch noch hinreichend erreicht. Viele bislang alltägliche Angebote stehen zudem aktuell nicht zur Verfügung. Neben Strategien einer verantwortungsvollen und reflektierten Wiedereröffnung sollten deshalb die Erreichbarkeit aller Personengruppen und die Identifikation von neuen Bedarfen stärker in den Vordergrund geraten.
Die dargestellten ideologischen Hintergründe verdeutlichen jedoch auch die Notwendigkeit, auf gesellschaftlicher Ebene über neue Formen des guten Lebens und des sozial-ökologischen Wohlbefindens nachzudenken (Jackson, 2016; Paech, 2012; Sommer & Welzer, 2017). Wirtschaftliches Wachstum und steigende Bruttosozialprodukte dienen hierbei nicht mehr länger als signifikante Indikatoren. Stattdessen sind Wohlfahrtssysteme gefragt, die soziale und ökologische Lebensqualität miteinander verbinden und Menschen dazu befähigen, resiliente Gesellschaften mit wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu schaffen (Büchs & Koch, 2017; Böhnisch, 2019).
Soziale Arbeit ist hier sowohl in Bezug auf eine Erziehung und Bildung zur Nachhaltigkeit als auch als Akteur*in für eine nachhaltigkeitsorientiertere Politik gefragt (Böhnisch, 2019, S. 145ff.). Christina Erickson verdeutlicht die methodischen Möglichkeiten, sozial-ökologische Wandlungsprozesse anzustoßen und indem mit Adressat*innen neue Modelle identifiziert, gemeinsame Ziele definiert, Pläne und Strategien der Umsetzung geschaffen und die erreichten Ziele ausgewertet werden (Erickson, 2019, S. 90ff). Auf diesem Wege können sozial-ökologische Transformationsprozesse beim Arbeiten mit Einzelnen, Familien, Gruppen und Gemeinwesen konkret gestaltet werden. So kann der Anspruch sozial-ökologischer Gerechtigkeit in der Sozialen Arbeit eingelöst werden und sich daraus ergebende Ansprüche dem sozialpolitischen Diskurs zugeführt werden (Matthies & Nähri, 2018; Matthies & Nähri 2016).
Literatur
Böhnisch, L. (2019). Sozialpädagogik der Nachhaltigkeit. Eine Einführung. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.
Büchs, M., & Koch, M. (2017). Postgrowth and wellbeing: Challenges to sustainable welfare. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Dominelli, L. (2012). Green social work: From environmental crises to environmental justice. Cambridge: Polity.
Erickson, C. L. (2018). Environmental justice as social work practice. New York: Oxford University Press.
Jackson, T. (2016). Prosperity without growth. Foundations for the economy of tomorrow. Milton Park, New York: Routledge.
Koch, M., & Mont, O. (Eds.) (2016). Sustainability and the political economy of welfare: Perspectives, policies and emerging practices. London: Routledge.
Matthies, A.-L., & Nähri, K. (Eds.). (2018). The eco-social transition of societies. The contribution of social work and social policy. London & New York: Routledge.
Nähri, K., & Matthies, A.-L. (2016). The ecosocial approach in social work as a framework for structural social work. In: International Social Work, 61, 490-502.
Paech, N. (2012). Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: oekom.
Sommer, B., & Welzer, H. (2017). Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom.
Zitiervorschlag: Spatscheck, C.; Villa, M.; Pereyra, B.; Reis, R. (2020): Die Corona-Krise, soziale Nachhaltigkeit und eine sozial-ökologische Soziale Arbeit. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34490
Christian Spatscheck
Professor*in für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Bremen
Arbeitsschwerpunkte: Sozialräumliche, systemische und sozialökologische Ansätze der Sozialen Arbeit
Kontakt: christian.spatscheck@hs-bremen.de
Matteo Villa
Associate Professor*in für Wirtschaftssoziologie am Dipartimento di Scienze Politiche der Università di Pisa
Arbeitsschwerpunkte: Ökologische Nachhaltigkeit von Wirtschaftssystemen, vergleichende Sozial- und Arbeitspolitik, sozio-ökonomische Exklusionsprozesse
Kontakt: matteo.villa@unipi.it
Brenda Pereyra
Professor*in für Soziale Arbeit im Bereich Salud Communitaria der Universidad Nacional de Lanús, Argentinien
Arbeitsschwerpunkte: Armut, Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesenentwicklung
Kontakt: bpereyra@unla.edu.ar
Rodrigo Reis
Professor*in für Urban Design und Public Health an der Brown School der University of Washington in St. Louis
Arbeitsschwerpunkte: Bezüge zwischen Communities, Public Health und Sozialer Arbeit
Kontakt: reis.rodrigo@wustl.edu