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Der Spiel-Platz

Der Spiel-Platz – Fotos © Private Aufnahmen

Schließend für die „kurzen“, öffnend für die „langen“ Menschen. Mit dieser platten Gegenüberstellung versuche ich die städtische Entwicklung La Coruñas (Spanien) der vergangenen 20 Jahre auf den Punkt zu bringen. Im Februar dieses Jahres weilte ich für einen Forschungsaufenthalt in der nordgalicischen Hafenstadt. Die Stadt hat sich seit den 1990er Jahren, als ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts gemeinsam mit jungen Menschen verschiedene Orte und Plätze konzeptionell als verdeckte Aneignungsformen Jugendlicher in der Stadt erschloss, verändert. Mit neu gebauten Uferpromenaden, Fahrverboten, einem Fahrradnetz, attraktiven Platzgestaltungen, Begrünungen, neuen Zugängen zu Parks und zum Meer hat sich die Stadt seither für die langen Menschen geöffnet. Jedoch nicht für Kinder. In dieser offenen Stadt befindet sich ihr Platz an ganz bestimmten Orten im öffentlichen Raum: in geschlossenen und geschützten Spiel- und Bewegungswelten.

Kurz nach meinem Forschungsaufenthalt wurde in Spanien im Rahmen der COVID-19-Pandemie die Ausgangssperre (der so genannte „Lockdown“) ausgerufen. Das öffentliche Leben wurde im Namen der Sicherheit stillgelegt: alle mussten auf physische Distanz gehen (so genanntes „Social Distancing“), ihre Mobilität möglichst komplett einstellen. Diesen Grundsätzen folgend, wurden Spielplätze – nicht nur in Spanien, auch in Deutschland oder der Schweiz – sofort abgeriegelt. Die verwaisten, mit Flatterbändern oder Bauzäunen abgesperrten und mit Verbotsschildern markierten Spielplätze wurden so zum Sinnbild der Corona-Ausgangssperre schlechthin. Dieses Bild veranlasst mich zu folgender These: Während in „normalen“ Zeiten bezogen auf den Siedlungsraum eine gesellschaftliche Differenzlinie zwischen Erwachsenen (lang) und Kindern (kurz) verläuft, werden in „Krisenzeiten“, wie der Covid-Krise, ganz andere Differenzlinien sichtbar. Drei dieser Differenzierungslinien, die sich während des Lockdowns offenbarten, sollen im Folgenden anhand des Spielplatzes als gesellschaftlichen Ort für Kinder ins Licht gerückt werden.

  1. SpielPLATZ: Differenzlinie zwischen engen und großzügigen Wohnverhältnissen

Städtische Entwicklungen im Zuge massiver Industrialisierungsprozesse führten im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu Wohnverhältnissen, die als „eng“ charakterisiert werden können. Arme, eigenwanderte und obdachlose Kinder hielten sich tagsüber von Erwachsenen unkontrolliert in feuchten Innenhöfen oder Gärtchen von überfüllten Mietskasernen und auf den verkehrsreichen Pflasterstraßen auf. Reformer*innen setzten sich für die Schaffung von Kinderspielplätzen ein. Für sie war das beaufsichtigte Spiel der Schlüssel für das geistige, moralische und körperliche Wohlbefinden von Kindern. Was mit einem Sandhügel auf einem Platz in der Stadt begann entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem ausgeklügelten System aus Wippen, Schaukeln, Karussells, Rutschen und Klettergerüsten. In dieser Tradition lässt sich der Spielplatz als Gegen- und Ergänzungsort verengter Wohnverhältnisse betrachten. Ein Ort, an dem Platz vorhanden ist, der beim Wohnen fehlt. Nicht verwunderlich ist, dass die Corona-Abriegelung der Spielplätze insbesondere jene Kinder und ihre Betreuungspersonen vor größere Herausforderungen stellte, die in engen oder beengten Verhältnissen wohnen. Diejenigen mit einem eigenen Garten waren hingegen in einer privilegierten Situation. Der Lockdown hat damit eine Differenzierungslinie zwischen Lebensstilen und Wohnverhältnissen zu Tage gebracht, die in großem Masse schichtspezifisch ist, und die Krisentauglichkeit dichten Zusammenlebens, wie es für Städte typisch ist, in Frage stellt. Offen bleibt, ob und in welchem Ausmaß die Erfahrungen zu einer neuerlichen Stadtflucht führen wird. Bekommt die Frage nach dem gesellschaftlichen PLATZ von Kindern eine neue Brisanz?

  1. SPIELplatz: Differenzlinie zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre

Auf Spielplätzen lernen Kinder spielerisch, was Gemeinschaft, was Öffentlichkeit bedeutet, dass Spielgeräte allen gehören und von allen genutzt werden dürfen. Mit dem Lockdown fand das öffentliche Leben auf einen Schlag nicht mehr statt. Kinder und ihre Betreuungspersonen waren gezwungen, sich in die Privatheit zurückzuziehen. Damit wurden nicht nur die Bezüge zur Öffentlichkeit gekappt, sondern auch andere, die in den öffentlichen Spielplätzen angelegt sind: wie Erwachsene mit Kindern, Erwachsene mit Erwachsenen und Kinder mit Kindern umgehen. Es lässt sich abschließend nicht sagen, wie sich die Differenzlinie zwischen privater und öffentlicher Sphäre verschoben hat und ob diese Erfahrungen zu einem neuerlichen Verhäuslichungsschub führen oder im Gegenteil zu einem Wiedererstarken des öffentlichen Lebens. Gelingt es, das gemeinschaftliche und öffentliche Leben wieder SPIELERISCH an dafür vorgesehenen Plätzen anzueignen?

  1. Spielplatz: Differenzlinie zwischen dem Spiel und dem Ernst des Lebens

Als Gegenort zur gefährlichen Straße stellte der Spielplatz ursprünglich einen sicheren Freiraum für Kinder dar, einen öffentlichen Ort für das selbstständige Spiel, frei von anderen Funktionen des Lebens (wie bspw. Arbeit, Pflicht etc.). Der Lockdown legitimierte, dass Kinder in Wohnungen eingesperrt wurden, keinen Kontakt mehr zu ihren Freund*innen haben konnten, nicht oder kaum mehr an die frische Luft durften. In der Verschiebung der Prioritäten schien das kindliche Spiel an letzter Stelle. Offen bleibt, was diese Erfahrung mit den Kindern macht, und, ob man jetzt einfach wieder in den Modus des Spiels wechseln kann.

Seit kurzer Zeit sind die Spielplätze wieder offen, der Lockdown ist vorerst vorbei. Jederzeit kann es jedoch zu neuen (lokalen) Ausgangssperren kommen. Wünschenswert wäre – sowohl für „besondere“ als auch für „normale“ Zeiten – eine grundlegend andere gesellschaftliche Verhältnisbestimmung von Öffnen und Schließen als die eben erlebte. Aus einer Kinderperspektive gälte es, spielerisch das gemeinschaftliche und öffentliche Leben aneigenbar zu machen, sowohl an dafür vorgesehenen Plätzen in der Stadt als auch in der Gesellschaft. Ziel müsste sein, die Stadt für Kinder zu öffnen.

 

Zitiervorschlag: Reutlinger, Christian (2020): Der Spiel-Platz. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33940

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