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Der neue Glaube an die Wissenschaft?

Im Rahmen der Corona-Krise werden wissenschaftliche Studien zur Pandemie sowohl öffentlich-medial breit diskutiert als auch als Legitimationsgrundlage politischer Maßnahmen herangezogen. Zu vernehmen ist ein deutlicher Ruf nach gesicherter Erkenntnis rational begründeter Handlungsentscheidungen, der sich u.a. an die Wissenschaften richtet. Wie bei jedem Einbezug von Expertise bindet die Politik ‚ihre‘ Entscheidungen dabei an ein Wissen, über dessen Bedingungen sie nicht im selben Maße verfügt wie die hinzugezogenen Wissensexpert*innen. Die Verwendung wissenschaftlichen Wissens erfolgt immer vermittels eines Vertrauens in bzw. Glaubens an dessen Güte und Nützlichkeit.

Jener Glaube an die Wissenschaft muss dabei über soziale Prozesse der Zuschreibung von Autorität, d.h. der Autorisierung des Wissens durch die Verwender*innen dieses Wissens, erst hervorgebracht werden – er artikuliert sich als ein fragiles Machtverhältnis von Anspruch, Versprechen und Anerkennung, durch das Wissen erst zu gültigem Wissen wird. Zwar wird der Wert wissenschaftlichen Wissen intern über Verfahren und Kriterien hervorgebracht, aber die Wissenschaftsforschung und -theorie hat in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass sie stets auch in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt sind, so dass die Wissensproduktion immer auch sozialen Bedingungen unterliegt. In Zeiten von Corona – so unsere These – werden diese Autorisierungs- und Legitimierungsprozesse eindrücklich sichtbar und öffentlich ausgetragen. Wenn also wissenschaftliche Studien und Argumente in aktuellen Debatten einen bedeutsamen Einsatz bilden, dann ist dies weniger ein Zeichen eines neuen Glaubens an die Wissenschaft in Krisenzeiten, sondern dafür, dass die Reflexivität wissenschaftlich hervorgebrachten Wissens eine neue Qualität bekommt.

Klassischerweise zeichnet sich die Expertise der Wissenschaft durch die Exklusivität ihrer Wissensproduktion aus, was sich etwa in der Abgrenzung von einer breiten Öffentlichkeit (bspw. dem Rückzug ins Labor) oder durch die Etablierung von Teilöffentlichkeit als scientific community zeigt. Die Aura des Elitären verbindet sich mit einem Anspruch auf Deutungshoheit. Beispielhaft lässt sich die Positionierung der Leopoldina nennen, die mit einer Inszenierung von wissenschaftlicher Autorität und Deutungshoheit einher ging. Als „unabhängige und dem Gemeinwohl verpflichtete“ Expert*innenkommission erhebt sie einen übergreifenden Gültigkeits- und Verbindlichkeitsanspruch für ihre Erkenntnisse und sieht sich qualifiziert wie legitimiert zur „Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Eine öffentliche Debatte über die Aussagen dieser Expertise erscheint dabei weder wünschenswert noch notwendig: „Die Stimme der Leopoldina wird gehört“ – Aufgabe und Verantwortung der Öffentlichkeit liegt eher darin, dieser Stimme der Wissenschaft zu folgen.

Die Selbstpositionierung als „klassische Gelehrtengesellschaft“ und der Anspruch auf exklusive Deutungshoheit v.a. weißer Männer hat viel Kritik hervorgerufen. So wurde verschiedentlich die Frage aufgeworfen, wodurch sich die Mitglieder der Leopoldina als Expert*innen der gegenwärtigen Lage qualifizieren und warum ausgerechnet ihnen geglaubt werden sollte. Auf diese Weise wurde die Fragilität dieser Form der Autorität in den Fokus gerückt und die Frage nach der Legitimation der Autorität des Wissens öffentlich zur Darstellung gebracht. Die (De-)Autorisierung handlungslegitimierenden Wissens wird auf vielfältige Weise und für alle sichtbar inszeniert. Das vollzieht sich nicht nur durch die Äußerungen in der vielgestaltiger und vielstimmiger gewordenen Medienarena, sondern auch durch Verkörperungen in den stummen und bisweilen lautstarken Praktiken des Umgangs mit der Virusbedrohung im öffentlichen Raum.

Neben den öffentlichen (De-)Autorisierungen von Wissen wird auch eine andere Weise der Inszenierung wissenschaftlicher Autorität sichtbar, wenn etwa die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim oder der Virologe Christian Drosten in ihren Podcasts Forschungsbefunde diskutieren: Sie markieren ihre (Er-)Kenntnisweisen und den aktuellen Forschungsstand, verweisen aber zugleich darauf, dass viele Erkenntnisse vorläufig sind und demnach keine eindeutigen und dauerhaft gültigen Richtlinien für den Umgang mit den Erkenntnissen abgeleitet werden können. So formuliert Drosten, er wolle mit seiner Expertise zu virologischen Fragen „so viele Menschen wie möglich so fundiert wie möglich informieren”, er könne Aussagen zu Ausbreitung und Eindämmungen des Virus treffen, nicht aber zu den politisch vor diesem Hintergrund zu treffenden Maßnahmenentscheidungen. Über die Podcasts wurde breiten Bevölkerungsschichten einerseits Einsicht in Forschungsergebnisse gegeben und andererseits ein Miterleben des Vollzugs wissenschaftlicher Erkenntnisbildung ermöglicht. Zum einen wurde Wissenschaft als fehlbar, aber zugleich als kollektive Bemühung um Wahrheit erfahrbar und zum anderen wurde die Öffentlichkeit im Sinne einer politisch urteilsfähigen, mündigen ‚Polis‘ adressiert.

Mit Catherine Newmark (Warum auf Autoritäten hören? Berlin: Dudenverlag. 2020) können diese Einsätze mit verändertem Einbezug der Öffentlichkeit als ‚neue‘ Formen von Autorität beschrieben werden. Im Unterschied zu ‚alten Autoritäten‘ zeichnen sich diese v.a. durch das Bekunden einer Einsicht in die Grenzen der eigenen Legitimation und Zuständigkeit aus, so dass die gesellschaftliche Frage nach dem Umgang mit dem Wissen nicht durch das Wissen selbst beantwortet wird und somit für Auseinandersetzungen zugänglich bleibt. Die Autorisierung wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit liegt gerade in der Zugänglich- und Sichtbarmachung der Produktionsbedingungen von Wissen. Vor dem Hintergrund eines ‚Bedarfs an Autorität‘, an Expertise und verantwortlicher Entscheidungsübernahme kann ‚Corona‘ zum Anlass der Fragen werden, welches Wissen auf welche Weise zählt und handlungsleitend werden soll, bzw. welchen Formen von Autorität geglaubt werden kann und soll(te).

Ob eine Autorisierung in Bezug auf ein Mehr oder Weniger an Wissen, Erfahrung, Macht und Verantwortung eher in Richtung neuer oder alter Formen von Autorität abzielt, ob das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eher paternalistisch oder partizipativ gestaltet wird, ist daher v.a. als politische Frage von Bedeutung. Es geht also weniger darum, ob die Wissenschaften von einem möglichen aktuellen Glauben an sie profitieren können – sondern darum, ob die Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen ein Potenzial für eine Repolitisierung wissenschaftlicher Expertise bietet. Gerade in Bezug auf pädagogische Fragen, etwa von Schulöffnungen, wäre eine stärkere Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Expert*innenwissen in der politischen Öffentlichkeit, wie wir sie oben diskutiert haben, wünschenswert. Die gegenwärtige Situation hätte durchaus das Potenzial, Fragen zur gesellschaftlichen Funktion von Schule und dem, was an ihr zu bewahren oder zu ermöglichen wäre, zu diskutieren. Statt auf die Rückkehr zum „Normalbetrieb“ mit Betonung der „Grundfächer“ und der „Leistungsklassen“ zu fokussieren, ließe sich die Chance auch nutzen, um grundsätzlich im öffentlichen Diskurs darüber nachzudenken, was die Institution der Schule für diese Gesellschaft eigentlich leisten kann und soll, und wie dies unter der Bedingung der Krise zu realisieren wäre.

 

Zitiervorschlag: Künstler, P. S.; Schmidt, M.; Spellenberg, C.; Schröder, S.; Wrana, D. (2020): Der neue Glaube an die Wissenschaft? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://sozpaed-corona.de/der-neue-glaube-an-die-wissenschaft/)

Download als PDF: Arbeitsbereich Systematische Erziehungswissenschaft_Der neue Glaube an die Wissenschaft

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