Die vielseitigen gesellschaftlichen Bewältigungsversuche im Zuge der Coronapandemie haben unser Leben seit fast zwei Jahren massiv verändert. Routinen wurden fraglich, im Ausnahmezustand entstanden neue Alltagsformen, neue Krisen brachen auf – in so kurzer Zeit. Neben Fragen virologischer Natur (z.B. der Verbreitung und Mutation des potenziell tödlichen Virus) wurden mit der Pandemie bereits bekannte soziale Fragen neu gestellt und diskutiert (siehe zur Frage der häuslichen Gewalt Henschel 2020; zum Kinderschutz Urban-Stahl et al. 2020; zur Geschlechtergerechtigkeit in Familien Richter 2020). Parallel zu den sozialen Prozessen der Vereinzelung (in der Bewältigung, im Leid) entwickelte sich eine kollektive und politisch brisante Bewegung. Diese ist – ebenso wie die öffentlichen Hygieneregelungen „AHA“, „3G“, „2G“ – Teil der ‚neuen Realität‘ geworden. Die Rede ist von den sogenannten Coronaprotesten. Ihnen wollen wir uns mit diesem Blogbeitrag widmen und fragen: Wie können wir diese Protestformen sozialpädagogisch verstehen? Welche Bedeutung haben die Coronaproteste als Teil der Lebenswelt von Adressat:innen? Welche Folgen hat dies für die Soziale Arbeit?[1]
1. Zum Kontext dieses Blogbeitrags
Wir befinden uns noch mitten in der Krise, das meiste ist noch unverstanden. Wir erleben die Konflikte hautnah, sind verwickelt und betroffen. Um diesem Umstand gerecht zu werden, haben sich Kolleg:innen und Studierende an der TU Dresden im Bereich Sozialpädagogik entschieden, aus der Not eine Tugend zu machen. Als Autor:innen dieses Papiers richteten wir am 30.6.2021 ein sozialpädagogisches Gesprächsforum mit dem Anliegen „Coronaproteste (sozialpädagogisch) verstehen?“ aus und begaben uns damit in eine gemeinsame Suchbewegung. Dabei nahmen wir die „Unabgeschlossenheit“ der Pandemie ebenso ernst wie die „Unabgeschlossenheit“ wissenschaftlicher Erkenntnisse (Huber & Reinmann 2019, S. 48) – sowohl zur Pandemie, als auch zu den Coronaprotesten.
Den Anstoß für die gemeinsam realisierte Veranstaltung gab Sarah Urban (Studentin im MA Sozialpädagogik). Sie entwickelte im Rahmen einer Projektarbeit ein Veranstaltungskonzept zur Diskussion von möglichen Forschungsfragen (vgl. Riewerts & Weiß 2018, S. 39) rund um das Thema Coronaproteste. In diesem Blogbeitrag greifen wir die kollaborativ entwickelten Fragen auf und betten sie in aktuelle sozialwissenschaftliche und sozialpädagogische Debatten ein. Wir danken den Teilnehmenden für die gemeinsame Diskussion sowie für ihre Anregung, die gemeinsam entwickelten Perspektiven weiter zu bearbeiten und in diesem Rahmen zu veröffentlichen.
2. Protest gegen Coronaverordnungen – was (ist) passiert?
So, wie die Pandemie und ihre Folgen schwer abschließend einzuschätzen sind, so sind es auch die Proteste gegen die staatlich verordneten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Der Charakter dieser Proteste ist nicht leicht zu fassen. Viele Teilnehmer:innen reklamieren für sich, auf den – alltagssprachlich lange als „Hygienedemos“ bezeichneten – Kundgebungen friedlichen Protest auszuüben. Auf der anderen Seite übten manche Demonstrationsteilnehmer:innen Gewalt aus, so z.B. am 7.11.2020 bei der „Querdenken“-Demonstration in Leipzig oder am 30.08.2020 beim Versuch, unter Reichsflaggen den Deutschen Bundestag in Berlin zu stürmen.
Wie können die Coronaproteste verstanden oder ihr Zustandekommen gar erklärt werden? Welche Bedeutung haben die Proteste für die Lebenswelt von Adressat:innen? Im Folgenden nehmen wir – angelehnt an die Ergebnisse unseres sozialpädagogischen Gesprächsforums – die situierten Perspektiven von (protestierenden) Akteur:innen im Kontext sozialer Dynamiken in den Blick. Wir formulieren dazu fünf Forschungsperspektiven. Diese bauen nicht direkt aufeinander auf, sondern stehen als – sich teilweise ergänzende – Forschungszugänge nebeneinander. Wir diskutieren zunächst, ob die Coronaproteste als eine Form der kollektiven Bewältigung in der Situation gesellschaftlicher Unsicherheit verstanden werden können. Anschließend fragen wir nach der Zusammensetzung der Protestierendengruppe und nach der Motivation der unterschiedlichen Teilgruppen zur gemeinsamen Demonstration. Vor dem Hintergrund der sozialen Heterogenität der Protestierendengruppe und dem Eindruck, dass der Protest nicht anhand von Aktivitäten eines bestimmten sozialen Milieus erklärbar ist, schlagen wir alternativ einen biografietheoretisch fundierten Forschungszugang vor. Mit einem intervenierend-partizipativen Forschungskonzept denken wir außerdem über die Erfahrung von Menschen nach, die sich im Streit über Corona von Familienmitgliedern oder Freund:innen entfremdet haben: Könnte das gemeinsame Erzählen subjektiver Pandemieerfahrungen eine Form der Wiederbegegnung darstellen? Abschließend blicken wir auf Kinder, deren Eltern die Hygienemaßnahmen ablehnen: Wie erleben und deuten sie die Pandemie und den Protest?
3. Protest als kollektive Bewältigungsform für gesellschaftliche Unsicherheit?
Im Zentrum der ersten Forschungsperspektive steht die Frage nach kollektiven Dynamiken und Erfahrungen, die Menschen in der Pandemie machen. Die Coronapandemie ist ein neues, in dieser Weise noch nicht da gewesenes Phänomen. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die die Menschen angesichts von Kontaktverboten, Hygienemaßnahmen und Abstandsgeboten machen, bergen Unsicherheiten und verweisen immer wieder auf Unklarheiten angesichts der permanenten Anpassung und Überarbeitung von Regeln und Maßnahmen. Die Pandemie fordert daher von den Menschen ständig neue Bewältigungsstrategien in ihrem Alltag, mit denen sie sich einerseits an die Vorgaben und Vereinbarungen anpassen und sich andererseits die notwendige Flexibilität für neue Anforderungen offenhalten. So diskutiert Engelbracht (2020) die gesellschaftliche Krise als eine allgemein verunsichernde Situation, die individuell und kollektiv bewältigt werden müsse. Auch damit verbundene Widersprüche müssen ausgehalten werden.
Ist der kollektive Protest vor dem Hintergrund dieser immensen Anforderungen erwartbar? In einer strukturfunktionalistischen Perspektive diskutiert Émile Durkheim bereits Ende des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von kollektiven Zumutungen durch gravierende gesellschaftliche Veränderungen und individuellen Antworten darauf. Er beobachtet seinerzeit die Zumutungen durch die Industrialisierung und bezeichnet Situationen, in denen gesellschaftliche Anforderungen die individuellen Ressourcen des Alltagshandelns überfordern, als anomisch (Durkheim 1983 [1897]). Im Zustand der Anomie gebe es keine konkreten Handlungsanweisungen und auch keinen Weg zum bekannten Zusammenleben zurück, so Durkheim. Dadurch entstehe eine Ziel-Mittel-Diskrepanz in der Bedürfnisbefriedigung der Menschen – sie wissen demnach schlicht (noch) nicht, wie Alltagsbewältigung in den ungewohnten Rahmenbedingungen gelingen kann. Um dem sich immer stärker aufbauenden Druck in der diffusen, unbekannten Situation zu überwinden, müssten die Individuen neue Handlungsstrategien entwickeln. Nur so könnten sie sich an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Laut Durkheim kann die erlebte Ziel-Mittel-Diskrepanz aber auch in einem Scheitern gipfeln, das Menschen in den Suizid führt.
Stärker auf den Gedanken der Strategieentwicklung zum Überwinden anomischer Situationen fokussierend, knüpft der Soziologe Robert Merton (1938) an die Anomietheorie Durkheims an und blickt auf individuelle Handlungsformen. Menschen stünden unter dem sozialen Druck, neue Wege der Bedürfnisbefriedigung zu finden – also die bereits erwähnte Ziel-Mittel-Diskrepanz zu überwinden. Merton beschreibt fünf Handlungstypen der Reaktion auf eine anomische Situation: Konformität, Innovation, Ritualismus, Rückzug und Rebellion (vgl. ebd.).
Wenn wir vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen des Alltags die Pandemie als eine anomische Situation verstehen, so können wir fragen, ob die Proteste als „Rebellion“ (vgl. Merton 1938) eine zu erwartende Bewältigungsform sind. Laut Merton lehnen ‚rebellierende‘ Menschen sowohl die Ziele, als auch die Mittel der Veränderung sozialer Praktiken ab. Dies können wir auch bei den Coronaprotesten beobachten: Indem Protestierende die Notwendigkeit zur Überwindung der Pandemie in Zweifel ziehen bzw. die Pandemie selbst verneinen, lehnen sie das ‚Ziel‘ der Hygienepraktiken ab. Vor diesem Hintergrund erscheint die Zurückweisung der kollektiven ‚Mittel‘ der Pandemiebekämpfung (Kontaktbeschränkungen oder Impfungen) nur logisch.
Folgt man dem Konzept der Bewältigung von anomischen Situationen, so treffen sich bei den Coronaprotesten Individuen, denen der Umgang mit der herausfordernden Situation nicht anders als durch Rebellion gelingt. In diesem Sinne kann man nach den unbewussten Bewältigungsmotivationen der Protestierenden fragen. Außerdem: Sind die Coronaproteste möglicherweise nicht nur ein Mittel, um in einer gesellschaftlich verunsichernden Situation handlungsfähig zu bleiben – sondern sind sie darüber hinaus vielleicht auch (paradoxe) Versuche, den ‚Normalzustand‘ (ohne Maske, Abstand etc.) situativ wiederherzustellen?
Geht man der alltäglichen Bewältigungsfrage im Angesicht der Pandemie systematisch weiter nach, bieten sich Anschlüsse an die Überlegungen Durkheims und Mertons auch weiterhin an. Allerdings sollten dabei auch die anderen Bewältigungstypen (Konformität, Innovation, Ritualismus und Rückzug, s.o.) berücksichtigt werden. Es wäre darüber hinaus gehend auch zu fragen, welche Bewältigungsformen möglicherweise typisch für diese Pandemie in einer globalisierten Welt sind, sowie welche Rollen (soziale) Medien und digitale Kommunikationsmöglichkeiten für die Coronaproteste und andere Bewältigungsformen spielen.
4. Wer demonstriert mit wem?
Mögen die Formen des Protests sich recht schnelllebig wandeln – weniger ,flüchtig‘ sind möglicherweise die nachhaltigen Effekte auf die Bildung und das Erstarken eines neuen Wir-Gefühls. Finden sich in den Coronaprotesten neue Gruppen zusammen? Oder trifft sich bei den Protesten ein bereits bestehendes Milieu, das in dieser Ausprägung lediglich noch nicht öffentlich sichtbar war?
Diesen Fragen gehen politische Soziolog:innen der Universität Basel nach und stellen auf Basis ihrer Befragung von Protestierenden fest, dass diese hauptsächlich aus der Mittelschicht kommen, mehrheitlich in Vollzeit arbeiten und häufig selbstständig sind sowie über einen tendenziell höheren Bildungsgrad als der Bevölkerungsdurchschnitt verfügten. Zudem sind sie durchschnittlich etwa 40 Jahre alt und meistens männlich (vgl. Nachtwey et al. 2020). Die Baseler Autor:innen vergleichen weiterhin die Einstellungen der Protestierenden zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl mit ihren Einstellungen in der Pandemie und beobachten, dass die Mehrheit der Protestierenden zunächst eher von politisch links kommend Kritik übte. Mit ihren Aktivitäten wandern die Protestierenden jedoch im politischen Spektrum zunehmend nach rechts. Die Kernthemen ihres Protests sind nunmehr Regierungs- respektive Staats- und Medienkritik, sowie verschwörungstheoretische und populistische Erklärungsmuster zur vermeintlichen Problemlösung (vgl. ebd.).
Trotz dieser Gemeinsamkeit in soziodemographischen Merkmalen und der sukzessiven Annäherung politischer Meinungen ist das Spektrum der Teilnehmenden facettenreich. Neben Menschen, die noch nie in ihrem Leben oder seit langer Zeit nicht mehr demonstriert haben, stehen politisch gut organisierte Personen auf der Straße (Teune 2021, S. 20). Neben Vertreter:innen rechter Medien (Bartsch et al. 2020) stehen sich ‚links‘ positionierende Teilnehmer:inen und Menschen mit esoterischen Bezügen (vgl. Bierl 2021; Callison & Slobodian 2021). So bleibt die Ausgangsfrage bestehen: Wie finden diese Menschen zusammen, worin finden sie sich? Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen könnte ein Konzept von Armin Nassehi liefern. Er diskutiert die komplexen Zusammensetzungen moderner Gesellschaften als ein Zusammenwirken verschiedener, autonomer Funktionssysteme mit „verteilten Intelligenzen“, welche an sogenannten „Schnittstellen“ (vgl. Nassehi 2017) jeweils Anknüpfungspunkte finden. Im Protest, so die Überlegung, träfen sich die unterschiedlichen Funktionssysteme (also die unterschiedlichen sozialen Gruppen) an ihren Schnittstellen (d.h. in ihren thematischen oder inhaltlichen Anknüpfungspunkten). So entstehe ein situativ vereinendes Moment. Diesem Konzept folgend, müssen die Proteste nicht als eine ‚große Einheit‘, sondern können als eine Überschneidung verschiedener Funktionssysteme beschrieben werden. Die zahlreichen Gruppen und ideologischen Strömungen nähmen mit je eigener Logik, eigenem Selbstbild, Ansichten und Handlungspraktiken teil. In ihren Schnittstellen finden sie daher – so Nassehi – trotz ihrer Unterschiedlichkeit zueinander.
Mit Blick auf die beschriebene Heterogenität ist daher wichtig zu betonen, dass die Coronaproteste nicht als Sammelbecken eines neuen „Außens“ im Sinne der Hufeisentheorie verstanden werden sollten (vgl. Casale & Kessl 2020). Laut aktuellem Kenntnisstand fühlen sich unterschiedliche Gruppen angesprochen, wenngleich sie unterschiedlich stark vertreten sind (vgl. Nachtwey et al. 2020). Eine verkürzte Bezeichnung als ‚rechter Protest‘ verdeckt daher die Vielfältigkeit in der Zusammensetzung. Und noch wichtiger: Sie verdeckt die Schnittstelle der unterschiedlichen Menschengruppen und ihre Anschlussfähigkeit zueinander. Zu erforschen, wie die teilnehmenden Gruppen die Pandemie deuten, was sie zum gemeinsamen Protest motiviert und worin genau ihre Schnittstelle besteht, wäre von zentraler Bedeutung. Dabei darf nicht vergessen werden, nach den spezifischen Anschlüssen der Proteste an rechte Organisationen und damit nach Erklärungen für die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Polizist:innen und Journalist:innen aus der Mitte des Protestgeschehens (vgl. Litschko 2020) zu fragen.
Die Frage nach den Anknüpfungspunkten dieser auf den ersten Blick disparaten Gruppen könnte ein Schlüssel zum Verstehen der Coronaproteste sein. Denn blickt man lediglich auf die Inhalte politischer Meinungsäußerungen, erscheint es paradox, dass sich politisch als ‚links‘ bezeichnende Menschen gemeinsam mit Personen demonstrieren, die sich in den Szenen der radikalen Rechten und Reichsbürger:innen bewegen. Laut Norberto Bobbio (2006 [1994]) besteht – bei aller Willkür des Begriffspaares rechts/links (vgl. ebd., S. 46) – ein deutlicher Werteunterschied zwischen den politischen Haltungen: Linke Haltungen verweisen auf Utopien, die die Gleichheit und Freiheit von Menschen anstreben und dazu gesellschaftliche Missstände zu überwinden suchen; Vertreter:innen rechter Haltungen hingegen befürworten Illiberalität, Ungleichheit (vgl. ebd., S. 79-80) und beanspruchen durch Autoritarismus und rassistische Ideologie eigene, höhergestellte (Freiheits-) Ansprüche. Über diesen Grundwiderspruch zwischen links und rechts hinausgehend, diskutiert Judith Butler (2020) die Utopie der ‚Linken‘ mit Blick auf menschliche Vulnerabilität als das Anerkennen von Abhängigkeiten und den Schutz vor Prekarisierung (vgl. ebd.).
Vor dem Hintergrund der Reflexionen über die ideologischen Gehalte ‚linker‘ und ‚rechter‘ Ideologien wäre nicht zuletzt im weiteren zeitlichen Verlauf zu erforschen, an welchen Stellen innerhalb der Protestbewegung ein Nebeneinanderstehen von unterschiedlichen ideologischen Facetten gelingt – bzw. in welcher Weise die von Nachtwey et al. (2020) beobachtete Bewegung ‚nach rechts‘ die Diskurse der sich als ‚links‘ verstehenden Teilnehmenden verändert.
5. Protest im Kontext situierter Körper- und Leiberfahrungen sowie der Lebensgeschichte
An den Coronaprotesten nehmen vornehmlich Menschen im mittleren Erwachsenenalter teil, sie haben ein tendenziell höheres Bildungsniveau (vgl. Nachtwey et al. 2020). Die Protestierendengruppe erscheint in dieser als Hinsicht relativ homogen. Angesichts der ansonsten aber sozialen Heterogenität der Protestteilnehmer:innen – siehe letzter Abschnitt – kann die Zusammensetzung der Protestierendengruppe aber nicht ausschließlich bspw. anhand von Politisierungsprozessen innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus erklärt werden. Alternativ soll in diesem Abschnitt das Individuum in den Blick genommen werden: Könnte eine lebensgeschichtliche Perspektive verstehbar machen, warum sich einige Menschen so vehement gegen die Anerkennung einer pandemischen Realität wehren und sich den Protesten anschließen?
Um diesen Gedankengang zu entfalten, wollen wir zunächst die „virale“ Qualität der Pandemie in Bezug auf die Körper- und Leiblichkeit der Menschen diskutieren: Das potentiell letal krankmachende Virus ist für die bloßen Augen unsichtbar. Nicht jede Person ist bisher erkrankt und oder hat eine Erkrankung als Bedrohung des eigenen Körpers erfahren. Hingegen greifen die politischen Bewältigungsstrategien gegen die Virusexpansion massiv in den Alltag ein, sind also direkt spürbar. Parallel zu den Hygienemaßnahmen werden öffentlichkeitswirksam Ansteckungswahrscheinlichkeiten, gesundheitliche Gefahren im Zusammenhang mit der Erkrankung und Sterberaten diskutiert. Die Pandemie ‚rückt den Menschen zu Leibe‘: Die Diskussion um Erkrankungsformen und Sterblichkeit fordert von den Einzelnen die Erkenntnis ein, „dass ‚dieser Leib, der ich bin, mir nicht restlos zur Verfügung steht‘“ (Marcel 1978, zit. in Herzberg 2018, S. 328) – weil das Virus den Körper als substanziellen „Ort der Einverleibung sozialer Welten“ (Hanses 2013, S. 47) gefährdet. Die öffentliche Verhandlung über die Vulnerabilität jedes einzelnen Körpers fordert von den Subjekten zugleich die Einsicht in die „Legitimität“ und „Notwendigkeit“ (vgl. Nohl 2020) von Hygienepraktiken ein.
Warum wird diese Notwendigkeit von einigen anerkannt und von anderen nicht? Bei der Suche nach Antworten erscheint es uns interessant, das Verhältnis von „Körper, Leib, Biographie und Gesellschaft“ (Hanses 2013, S. 47) weiter zu erörtern. So diskutiert Andreas Hanses die enge Verwobenheit dieser Dimensionen und betont, dass das unmittelbare leibliche Erleben des „Subjekts in seiner originären Eigensinnigkeit“ stets und zugleich in seiner Qualität als „sozialisiertes Subjekt“ verstanden werden müsse (ebd., S. 39). Er überlegt:
„In Anlehnung an die Ausführungen von Gesa Lindemann (1996), dass das gesellschaftliche Körperwissen die Körper- und Leibwahrnehmungen strukturiert, wäre […] zu fragen, inwieweit die biographischen Konstruktionen (und damit auch das diskursive Wissen einer Gesellschaft) die Körper- und Leiberfahrungen auch ihrerseits nachhaltig prägen. Körper und Leib wären somit dem Biographischen nicht nur vorgängig zu denken, sondern sie sind gleichsam durch biographische Wissensordnungen mitbedingt.“ (ebd., S. 46-47)
Diesem Gedankengang zur Relationalität von „Körper, Leib, Biographie und Gesellschaft“ (Hanses 2013, S. 47) folgend, lassen sich Vermutungen über das gesellschaftlich situierte Körper- und Leiberleben von Menschen in der Pandemie anstellen: Wenn vor dem Hintergrund subjektiver biografischer Konstruktionen und im Kontext eines zuverlässig verfügbaren Gesundheitssystems der eigene Körper sowie Andere in ihrer Körper- und Leiblichkeit bisher als unverletzlich wahrgenommen wurden, so erscheint es folgerichtig, dass die (durch Hygienemaßnahmen transportierte) politische Aufforderung zur Anerkennung von Verletzbarkeit auf individuelles Unverständnis stoßen kann. Dies dürfte vor allem dann gelten, wenn Menschen keine eigenen Erkrankungserfahrungen gemacht haben oder einen COVID-19-Verlauf (auch bei Bekannten) nicht als bedrohlich erlebten. Aus diesem individuellen Erleben heraus wäre eine Protesthaltung gegen die massiven Alltagseinschnitte durch die Hygienemaßnahmen subjektiv höchst sinnhaft. Zugespitzt kann gefragt werden: Sind einige Menschen in der Pandemie wegen der – anlässlich eines zunächst unsichtbaren Virus – bis in die private Alltagsgestaltung hinein reichenden Hygieneverordnungen in ihrer (lebensgeschichtlich entwickelten) ‚Körper- und Leiblichkeit‘ und womöglich auch als ‚Biografieträger:innen‘, die sich in der neuen gesellschaftlichen Situation verorten müssen, substanziell herausfordert? Ist dies möglicherweise auch eine unbewusste Motivation zur Teilnahme an öffentlichen Protesten?
Die hier als Gedankenspiel entwickelte Frage kann zum Ausgangspunkt für biografische Forschungsvorhaben genommen werden. Ein rekonstruktiver Forschungszugang erscheint dabei sowohl in Bezug auf die Körper- und Leiblichkeit, als auch in der biografischen Dimension vielversprechend. Denn Heidrun Herzberg hob in ihren biografietheoretischen Überlegungen zur Leiblichkeit des Erzählens selbst hervor: „Das Sich-Einlassen auf den autobiographischen Erinnerungsstrom setzt emotionale Regungen und implizites Wissen frei und macht sie verfügbar für Interpretationen.“ (Herzberg 2018, S. 329; vgl. auch Schütze 1983) Folgt man dieser Überlegung, kann das Erzählen der persönlichen Pandemieerfahrungen im Kontext der eigenen Lebenserfahrungen einen Zugang zu den Zusammenhängen von Leib und Sozialem in der ganz persönlichen Geschichte sichtbar machen – unabhängig davon, ob den Erzählenden diese Zusammenhänge bewusst sind.
Es wäre daher spannend, zunächst ganz offene biografische Erzählungen von Menschen zu erheben, die sich an den Coronaprotesten beteiligen. Mittels immanenter und exmanenter Nachfragen (vgl. Schütze 1983, S. 285) könnten dann Themen der Körper- und Leiblichkeit in ihrer potentiellen Verwundbarkeit vertieft werden. Auf diese Weise kann der Frage nachgegangen werden, ob und auf welche Weise das Erleben der Pandemie und einer gesundheitlichen Bedrohung mit lebensgeschichtlichen Situationen des Zugriffs auf die eigene Unversehrtheit in Zusammenhang gebracht wird. In einem theoretisch angeleiteten Sampling (vgl. Strauss & Corbin 1996) könnte untersucht werden, ob protestierende und nicht-protestierende Menschen unterschiedliche Körper- und Leiberfahrungen zum Ausdruck bringen. Weitergehend könnte erforscht werden, ob sich das persönliche Erleben möglicher ‚Vulnerabilität‘ mit der Erfahrung von (eigenen oder im Umfeld erlebten) schweren COVID-19-Verläufen ändert. Mit einem biografisch orientierten Längsschnittdesign könnte nicht zuletzt untersucht werden: Wie werden Protestierende in fünf Jahren auf sich selbst und ihr Erleben und Handeln in der Pandemie zurück schauen? Wie werden sie mit kommenden (Gesundheits-)Krisen umgehen?
Ein biografietheoretischer Zugang eröffnet aber auch die Möglichkeit, andere biografische Themen als die mögliche Vulnerabilität aus der Perspektive der erlebenden Subjekte zu erforschen bzw. zu entdecken. Ein lebensgeschichtlicher Forschungszugang könnte bspw. durch die Auseinandersetzung mit den Debatten um eine vermeintliche (wahlweise mit dem Nationalsozialismus oder der DDR assoziierten) „Coronadiktatur“ und Fragen nach dem Erleben von Freiheit theoretisch sensibilisiert werden (vgl. Strauss & Corbin 1996). Offene Fragen könnten selbstverständlich auch weitere Zusammenhänge aufdecken, die hier noch nicht gedankenexperimentell entworfen wurden.
6. Coronaprotest und Beziehungsabbrüche: Gegenseitiges Verstehen in Erzählcafés?
Viele Menschen machen die Erfahrung, dass in den letzten knapp zwei Jahren freundschaftliche und familiäre Beziehungen vom Streit über Gesundheitsfragen belastet sind. Ob wir überhaupt in einer Pandemie leben; wenn ja, wie weit die staatlich verordneten Hygienemaßnahmen in die persönliche Alltagsgestaltung hineinreichen dürfen und ob das Impfen ein geeigneter Weg sei – solche Fragen drängen sich in die Vertrauensverhältnisse sozialer Nahbeziehungen. Im Erleben scheinbar unüberbrückbarer Differenzen entscheiden sich einige Menschen, brisante Themen mit Bedacht zu vermeiden. Andere brechen Kontakte ab (vgl. u.a. Höhn 2021; Puttfarcken 2021).
Auch in Bezug auf solche Momente der pandemiebedingt belasteten oder abgebrochenen Beziehungen eröffnet ein biografietheoretischer Zugang interessante Forschungsperspektiven: „Biographien [sind] in einem historisch-politischen Kontext und im sozialen Raum verankert und werden von diesem mitbestimmt“, hebt Daniela Rothe (2017, S. 210) in ihren Ausführungen zur Qualität biografischen Wissens hervor. Außerdem können Freund:innen oder Familienmitglieder in der lebensgeschichtlichen Dimension „relevante Ereignisträger[:innen]“ (Schütze 1984, S. 85) sein. Wenn Menschen sich mit diesen nahen Personen im Streit über eine historisch-politische Situation überwerfen, dann ist davon auszugehen, dass die Erfahrungen des Dissens „[b]iographische Arbeit“ erfordert, also „die bewusste Zuwendung zur eigenen biographischen Identität in ihrer Gewordenheit und Veränderbarkeit“ (Schütze 2014, S. 124).
Man könnte dieser Frage nach der Qualität biografischer Arbeit zum Beziehungserleben mit einem Fokus auf individuelle Bewältigungsprozesse nachgehen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Kollektive in den Blick zu nehmen: In erwachsenenbildnerischer Perspektive hat sich Daniela Rothe mit der Praxis biografischen Erzählens in sogenannten Erzählcafés beschäftigt. Sie geht davon aus, dass in der (halb-) öffentlichen Auseinandersetzung mit kollektiv bedeutsamen Ereignissen ein Bildungspotential liege. Rothe beschreibt das theoretisch fundierte Modell, in Erzählcafés lebensgeschichtlichen Erzählungen zuzuhören, Erfahrungen zu befragen und Ereignisse kollektiv zu deuten (vgl. Rothe 2017, 2020). Das Besondere an dieser Form des Wissenschaft-Praxis-Transfer ist, dass die Beteiligten nicht nur Möglichkeit haben, Lebensgeschichten zuzuhören und nach einzelnen Ereignissen zu fragen. Darüber hinaus können auch „nachträgliche Berichte und Beschreibungen von Gruppensituationen, die als herausfordernd erlebt wurden oder als besonders gelungen“ (ebd. 2017, S. 211, H.i.O.), zu einem gemeinsamen Forschungsgegenstand gemacht und im Modus einer Forschungswerkstatt analysiert werden. Durch die gemeinsame Erzählpraxis sowie die nachträgliche Befragung von Gruppendynamiken haben die Beteiligten die Möglichkeit, „neue Bedeutungszusammenhänge [zu entdecken], […] eigene Erlebnisse in einen neuen Kontext zu stellen, bisherige Bewertungen zu relativieren und Erfahrungen neu zu gewichten“ (ebd. 2020, S. 149).
In der Pandemie und den – u.a. in Coronaprotesten ausgetragenen – Deutungskämpfen darum sind historisch-politische Rahmen zu einem Verhandlungsgegenstand geworden, der in die individuellen Lebensgeschichten und Beziehungsgestaltungen hineinreicht. Daher erscheint es vielversprechend, den von Rothe beschriebenen Ansatz des ‚Erzählcafés‘ auch in Bezug auf Pandemieerfahrungen zu erproben. Menschen, die die Hygienemaßnahmen als legitim annehmen sowie Menschen, die dagegen protestieren, könnten eingeladen werden, die Geschichte ,ihrer‘ Pandemie zu erzählen. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Bedeutung der politisch-gesellschaftliche Kämpfen aus der lebensgeschichtlich situierten Perspektive von in Beziehungen eingebetteten Menschen heraus zu begreifen. Neben dem Zuhören hätte das gemeinsam-forschende Reflektieren über besonders gelungene und herausfordernde Gruppendynamiken das Potential, dass sich den Beteiligten ein Fenster zum Verstehen der politisch-gesellschaftliche Dimension ihrer persönlichen Beziehungserfahrungen öffnet.
Die biografische Arbeit in Erzählcafés wäre daher nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen interessant. Vielmehr ist der von Rothe beschriebene Wissenschaft-Praxis-Transfer ganz grundlegend an Bildungsprozessen interessiert. In der von ihr vorgeschlagenen Variante sind allerdings nicht alle Beteiligten zwangläufig Beteiligte an der Forschungssituation. Wir schlagen daher vor, die Methode ‚Erzählcafé‘ durch partizipative Forschungspraktiken (vgl. Eßer et al. 2020) zu erweitern: Die als besonders „herausfordernd“ oder „gelungen“ erlebten Erzählsituationen über die Pandemie könnten tatsächlich mit allen Beteiligten – also den Erzählenden selbst, sowie beteiligten Wissenschaftler:innen – gemeinsam erforscht werden. Forschungswerksstätten in dieser Form zu erproben, birgt Erkenntnisqualitäten, die in den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnisbildung ebenso ausstrahlen könnten wie in den Bereich der lebensgeschichtlichen Selbstverortung und der intersubjektiven Verständigung in dieser Zeit.
7. Die Perspektive von Kindern im Spannungsfeld protestierenden Eltern und Institutionen
Die Situation von Kindern in der Pandemie wurde bereits vielfältig diskutiert. So ist die öffentliche Debatte stark von Fragen rund um das Home Schooling geprägt. Einen anderen Themenstrang stellen Überlegungen zum Kinderschutz dar (vgl. u.a. Urban-Stahl et al. 2020). Mit dem Blick auf die Coronaproteste eröffnet sich ein weiteres Forschungsfeld zur Lebenswelt von jungen Menschen: Welche Erfahrung machen Kinder, deren Eltern die Hygieneregeln ablehnen oder gar die Pandemie als ganze für nicht real erachten? Diese Frage interessiert uns vor dem Hintergrund zweier Befunde der Kindheitsforschung.
Erstens ist das Verhältnis von Familie und Institutionen als relevante Lebensorte von Kindern zu reflektieren. Kindheit findet sowohl in der Familie, als auch in staatlichen und privaten Institutionen wie KiTa, Schule und Vereinen statt. In diesen Räumen werden Kinder nicht nur betreut. Vielmehr eignen sich Kinder die Welt auch aus diesen Institutionen heraus an; sie agieren und reagieren darin (vgl. Rauschenbach 2011; Brake & Büchner 2021). Wenn nun Eltern der Notwendigkeit von Hygienemaßnahmen skeptisch gegenüberstehen, so erleben Kinder im Schulalter mindestens zwei Realitäten in Bezug auf den Umgang mit Hygienemaßnahmen. Die Skepsis und das Ablehnen von Maßnahmen auf der elterlichen Seite – regelmäßige Coronatests, Maskenpflicht und Quarantäneanordnungen auf schulischer Seite.
Um die Rolle von Kindern in solch widersprüchlichen Kontexten zu erforschen, sollte zweitens die Position von Kindern im Generationenverhältnis reflektiert werden. Obwohl ihnen das Recht auf Beteiligung bspw. in Form von politischen Wahlen vorenthalten wird, gelten Kinder in der aktuellen Kindheitsforschung doch sowohl in Familien als auch in gesellschaftlichen Institutionen eigenständige politische Akteur:innen. So wird davon ausgegangen, dass sie bereits im Grundschulalter ein Wissen um politische Institutionen haben und eigene latente Wertehaltungen ausgeprägt haben (vgl. Abendschön 2020). Mit einem solchen Wissen seien sie in der Lage, sich im intergenerationalen Verhältnis zu positionieren, das Generationenverhältnis in Frage zu stellen sowie aktive und gestaltende Rollen einzunehmen (vgl. Sünker & Swiderek 2021; Brake & Büchner 2021).
Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich Forschungsdesiderate für empirische Unternehmungen entwickeln: Wie gehen Kinder mit den unterschiedlichen Deutungen zur Pandemie von Eltern- bzw. Schulseite um? Wie bewegen sie sich zwischen den unterschiedlichen Hygienepraktiken und wie deuten sie diese vor dem Hintergrund ihrer situierten Welterlebnisse? Nutzen sie – und wenn ja, wie – Kenntnisse über politischen Debatten für ihre eigenen Verortungen? Und wie kommunizieren sie ihre Überlegungen gegenüber Eltern, in der Schule und gegenüber Forscher:innen? Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen zu diesen Fragen könnten relevante Erkenntnisse zu Kindern im Generationenverhältnis sowie zu ihrer Akteur:innenschaft im politischen Raum eröffnen.
8. Forschendes Lernen in der Krise – die kollaborative Forschungserfahrung
Das Phänomen der Coronaproteste ist noch neu, manchmal schwer zu greifen und politisch hoch aufgeladen. Zudem ist es erst in Anfängen durch wissenschaftliche Texte beschrieben und Forschende selbst sind in ihrem sozialen Umfeld, ihren Freund:innenschaften und Familien in Aushandlungsprozesse involviert. Dieses Beteiligtsein war im Sozialpädagogischen Gesprächsforum allerdings kein Hindernis, sondern ermöglichte, unterschiedlichste Erfahrungen zur Debatte zu stellen und theoriebildend zu reflektieren.
Mit diesem Blogbeitrag haben wir die Impulse aufgegriffen und einige mögliche Forschungsperspektiven auf den Gegenstand ‚Coronaproteste‘ skizziert. Dabei haben wir die Dimensionen der globalen sozialen Herausforderung („Pandemie“) ins Verhältnis zu gesellschaftlichen („Hygienemaßnahmen“) und kollektiven wie individuellen Bewältigungsformen gesetzt. Während wir in der ersten (Kollektive Bewältigung gesellschaftlicher Unsicherheit) und zweiten (Wer demonstriert mit wem?) Forschungsperspektive den Fokus auf gruppenbezogene Dynamiken in der Pandemie lenkten, nahmen wir in der dritten Perspektive (Protest im Kontext situierter Körper- und Leiberfahrungen sowie der Lebensgeschichte) auf biografietheoretische Weise das Verhältnis von Gesellschaft, Biografie und Leiberfahrung in den Blick. Wir gehen davon aus, dass keine der hier vorgestellten Akzentuierungen eine abschließende Erklärung für das Phänomen der Coronaproteste leisten kann, sondern nehmen vielmehr an, dass sich die Perspektiven in ihren Nuancierungen wechselseitig ergänzen können. Mit dem vierten Forschungszugang (Beziehungsabbrüche und gegenseitiges Verstehen in Erzählcafés) haben wir einen Vorschlag zur intervenierenden und partizipativen (Erwachsenbildungs-)Forschung unterbreitet. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass der wechselseitige biografische Zugang Verständigung und Dialog über intellektuelle Barrieren hinaus eröffnen kann – was natürlich nicht gleichbedeutend damit wäre, Verständnis für Verschwörungsmythen aufzubringen. Mit der letzten Forschungsperspektive (Die Perspektive von Kindern im Spannungsfeld) möchten wir uns dafür stark machen, Kinder nicht nur als KiTa-Besucher:innen und Schüler:innen in der Pandemie wahrzunehmen, sondern ihre Perspektive und Einschätzung auch in Bezug auf Corona und Protest sowie von ihnen erlebte Spannungen zwischen Sorgeberechtigten und anderen Institutionen zu erforschen.
Die entstandenen Fragen haben teilweise soziologischen, teilweise sozialpädagogischen Charakter. Einige sind eher als theoretische Fragen angelegt, andere laden zur Empirie ein. Einige erfordern eher einfachere, andere aufwändigere Forschungsdesigns. Wir freuen uns, wenn die – hier in aller Kürze kursorisch – entwickelten Fragen weitergehende Debatten inspirieren.
[1] Bei Interesse am Format zur Durchführung einer eigenen Veranstaltung zu einem selbst gewählten Thema, können Sie einen detaillierten Ablaufplan auf Nachfrage bei Sarah Urban sarah-urban@hotmail.com erhalten. Wir danken den Herausgeber:innen des Corona-SozPäd-Blogs für eine konstruktive Kommentierung der ersten Manuskriptfassung dieses Beitrags, sowie Marie Frühauf für eine hilfreiche Kommentierung einer späteren Manuskriptversion.
Literatur
Abendschön, Simone (2020): Politische Sozialisation im Kindesalter. In: Rita Braches-Chyrek/Charlotte Röhner/Heinz Sünker/Michaela Hopf (Hrsg.), Handbuch Frühe Kindheit. Opladen: Barbara Budrich, S. 65–74.
Bartsch, Michael/Peter, Erik/Schipkowski, Katharina (2020): Braune Infektionskette. In: TAZ Online. Abrufbar unter: https://taz.de/Corona-Verschwoererinnen-demonstrieren/!5677960/, letzter Zugriff am 3.2.2021.
Bierl, Peter (2021): Verquere Leute von links. In: Jungle World. Abrufbar unter: https://jungle.world/artikel/2021/34/verquere-leute-von-links?fbclid=IwAR0oeLz_QIP-n3fnc7733DctfZWiV2-O1cBBjlGLW6cxTmat5AYe3IJAl8w, letzter Zugriff am 4.11.2021.
Bobbio, Norberto (2006) [1994]: Rechts und Links: Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. 4. Auflage. Berlin: Wagenbach.
Brake, Anna/Büchner, Peter (2021): Kindheit und Familie. In: Heinz-Hermann Krüger/Cathleen Grunert/Katja Ludwig (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 1–32.
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Zitiervorschlag: Janotta, Lisa; Seltner, Felix; Urban, Sarah (2022): Coronaproteste (sozialpädagogisch) verstehen? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/73555)
Dr. Lisa Janotta
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rostock, Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik;
Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierung, menschenfeindliche Haltungen und Rechtsextremismus, Professionsforschung, Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit
Homepage
Kontakt: lisa.janotta@uni-rostock.de
Felix Seltner
M.A. Sozialpädagogik; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften;
Arbeitsschwerpunkte: politische Sozialisation, Generation, Familie
Kontakt: felix.seltner@tu-dresden.de
Sarah Urban
B.A. Sozialpädagogik; Masterstudentin an der TU Dresden (Sozialpädagogik);
Arbeitsschwerpunkte: Koproduktive Stadtentwicklung, räumliche Aneignung
Kontakt: sarah-urban@hotmail.com