Überspringen zu Hauptinhalt

Corona-Pandemie – die Kinder- und Jugendhilfe im Stresstest – eine gewerkschaftliche Zwischenbilanz

Vorbemerkung: Die hier geschilderten Wahrnehmungen und Einschätzungen ergeben sich aus gewerkschaftlicher Sicht auf alle Träger und Einrichtungen bundesweit. Es gibt sie, die positiven Beispiele aber insgesamt betrachtet sind die jüngsten Erfahrungen alarmierend.

  1. Lockdown-Phase

Die kompromisslosen Vorgaben für die Kinder- und Jugendhilfe (Betretungsverbote, Einrichtungsschließungen, Home-Office, etc.) zu Beginn der Pandemie bedeuteten für die Beschäftigten radikale Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen. Während eine Vielzahl von Kolleg*innen nach Hause geschickt wurde, war der verbleibende Teil in Angeboten der Notbetreuung in den Kitas bzw. der Aufrechterhaltung von Leistungen tätig, die auch während des Lockdowns unverzichtbar waren. Die Arbeit in der Notbetreuung war nicht selten von enormen Belastungen geprägt, denn die Rücksichtnahme auf Kolleg*innen, die der Risikogruppe zugehören und die nicht eingesetzt werden konnten, reduzierte die Anzahl der verfügbaren Kräfte deutlich. Gepaart mit den eigenen allgemeinen Sorgen und Unsicherheiten im Angesicht der Pandemie und denen der Kinder, Jugendlichen, Angehörigen oder Menschen mit Behinderungen ergab sich eine angespannte und belastende Arbeitssituation, die – in abgeschwächter Form – auch nach dem Ende des Lockdowns weiter spürbar ist. Tageseinrichtungen, die eine Notbetreuung für Kinder „systemkritischen“ Personals z.B. an Krankenhäusern leisteten, waren z.T. mit deutlich gestiegenen Bedarfen an Betreuungsstunden konfrontiert und mussten Öffnungszeiten ausweiten oder an Wochenenden und Feiertage die Einrichtungen offenhalten.

Zu diesem Zeitraum traten (wieder einmal) erhebliche Probleme der Arbeits- und Gesundheitsschutzorganisation zu Tage. Mit Beginn der Pandemie war jeder Arbeitgeber verpflichtet, einen Pandemieplan aufzustellen und Gefährdungsbeurteilungen der Arbeitsplätze durchzuführen, um die spezifischen Gefährdungen sichtbar zu machen und Gefährdungsursachen abstellen zu können. Letztgenanntes ist seit 1996 eine grundlegende Arbeitgeberpflicht im Rahmen des Arbeitsschutzes. Wahrgenommen wurde diese jedoch vielfach nicht rechtskonform und regelmäßig. So konnten bereits in den vergangenen Jahren entstandene Probleme nicht (rechtzeitig) entdeckt und behoben werden. Das führt in der aktuellen Pandemiesituation zu zusätzlichen Problemen: Von der Raumgestaltung bis zur Atemluftqualität tun sich vielfach Mängel und Probleme auf, die nun nicht kurzfristig lösbar sind.

Ein weiteres Defizit in der Arbeitsschutzorganisation zeigt sich im Zusammenhang mit der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Damit ist die Arbeit der Betriebsärzte angesprochen, die in der aktuellen Pandemie die Aufgabe haben, Beschäftigten auf Wunsch zu attestieren, ob bzw. mit welchen Einschränkungen sie angesichts ihres Gesundheitszustandes eingesetzt werden können. Diese Vorsorge konnte mangels hinreichender Kapazitäten der Betriebsärzte nur teilweise geleistet werden, so dass ganze Träger ihren Beschäftigten den Weg zum Hausarzt und eine Krankschreibung nahelegten und damit einer Anpassung der Arbeitsbedingungen auswichen. Im Ergebnis waren die Beschäftigten also mit einer hohen Gefährdungslage und unzureichenden Unterstützungssystemen konfrontiert. So mussten zum Teil über Nacht neue Hygienevorschriften oder Öffnungsszenarien vorbereitet und umgesetzt werden. Angesichts dieser Erfahrungen kann die Tatsache, dass Kindertageseinrichtungen sowie Einrichtungen der stationären Jugend- und Behindertenhilfe Arbeitsstätten sind, für die Arbeitsschutz- und arbeitsmedizinische Regeln gelten, kaum überbetont werden.

Aber auch auf anderen Ebenen hat die Pandemie die Arbeitssituation im Sozialbereich deutlich beeinflusst:

Einrichtungsschließungen bzw. die Einschränkung des Leistungsspektrums hatten, gerade bei freien und konfessionellen Trägern zur Folge, dass Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden und dadurch Teile ihrer Bezüge einbüßten, aber auch für die Entwicklung von Alternativangeboten für die Adressat*innen nicht mehr zur Verfügung standen. Es gibt auch einige gute Beispiele, wie trotz des Lockdowns Kontakt zu den Kindern, Jugendlichen, Sorgeberechtigten und anderen Adressat*innen gehalten wurde und unterstützende Angebote in dieser Zeit bereitgehalten wurden. Insgesamt jedoch war dies selten der Fall.

Der Einführung von Kurzarbeit folgten erste Diskussionen um die Überlebensfähigkeit der Träger. Die vorherrschenden Finanzierungsmodelle offenbarten eine weitere negative Seite: die Unfähigkeit der Träger, ihre eigenen gewachsenen Strukturen in Krisen abzusichern. Auch wenn bislang kein Fall einer Insolvenz bekannt geworden ist, sollten insbesondere nachfrageorientierte Finanzierungsmodelle (z.B. Gutscheinsysteme und Fachleistungsstunden) hinterfragt werden. Gute Soziale Arbeit braucht gewachsene bzw. wachsende Strukturen, in denen Träger und Beschäftigte Angebote fachlich anpassen und weiterentwickeln können, ohne dass die Finanzierung in Frage gestellt wird.

  1. Phase der „schrittweisen“ Öffnung der Angebote.

Während in den ersten Papieren noch von behutsamen Schritten zur Öffnung der Kitas unter Beachtung des Infektionsschutzes die Rede war, wurde bald klar, dass sowohl Eltern als auch Arbeitgeber nach schnellen Öffnungen verlangen.

Im Arbeitsschutz gilt grundsätzlich, dass nach arbeitswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zu handeln ist und gerade Belastungen für Beschäftigte nach- und ausgewiesen werden müssen. Demgegenüber erlebten wir in der Öffnungsphase, dass schnell einige Studien zitiert wurden, welche eine mutmaßlich geringere Ansteckungsgefahr durch Kinder auswiesen und handlungsleitend wurden. So wurde angesichts des öffentlichen Drucks mit Verweis auf eine mutmaßlich klare wissenschaftliche Beurteilung der Gefährdungslage vielerorts unmittelbar in den so genannten Regelbetrieb gesprungen.

ver.di hat bereits frühzeitig die Bundesregierung wie Landesregierungen zur Besonnenheit aufgerufen und gefordert, Öffnungsschritte ausgehend von den realen Möglichkeiten der Praxis und dem epidemiologischen Geschehen zu planen und diese zugleich eng mit den Beschäftigten und ihren betrieblichen Interessenvertretungen und den Eltern abzustimmen. Das in diesem Zeitraum veröffentlichte Simulationstool von AKJstat („Von der Notbetreuung zur stufenweisen Kita-Öffnung“, Rauschenbach u.a. 2020), welches den Trägern der Tageseinrichtungen Planungshilfen bieten sollte, ging, u.E. zu Recht davon aus, dass etwa 20 % des Personals wegen Krankheit, besonderer Vulnerabilität und anderen Gründen nicht zur Verfügung steht. Doch diese Hinweise blieben weitgehend unberücksichtigt. Das Ergebnis ist deutlich: Überall mangelt es an Personal und die realen Fachkraft-Kind-Relationen in den Einrichtungen weichen erheblich von den gesetzlichen Vorgaben ab. Der bereits vor der Pandemie offenkundige Fachkräftemangel hat sich durch die Krise weiter verschärft. Insbesondere in Kitas aber auch in anderen Einrichtungen (z.B. in Wohnheimen) können die Grundregeln des Infektionsschutzes nur eingeschränkt eingehalten werden. Nach wochenlangen Warnungen entstehen dadurch gerade bei älteren und vulnerablen Beschäftigten Ängste und Verunsicherungen. Die Sorge um die eigene Gesundheit oder die Gesundheit von Angehörigen verschwindet mit der Ausrufung des „Normalbetriebes“ nicht.

Viele Träger verfügen nicht über hinreichende Fachkompetenzen auf Träger- und Leitungsebene, um den Betrieb geordnet und fachlich begründet unter Beteiligung der Fachkräfte und Adressat*innen an neue Bedingungen anzupassen. Ein Beleg dafür ist, dass Kita-Träger mit guten Fachberatungsstrukturen ihre Einrichtungen häufig sehr viel besser fachlich aufstellen konnten als Träger ohne ausreichende Fachberatungsstrukturen. Ein Mangel, der nicht allein von den Trägern zu verantworten ist, sondern auf Mängel im Finanzierungssystem der Kinder- und Jugendhilfe verweist.

Das schon vor der Krise bestehende Defizit an Angeboten hat sich in der Krise verschärft und es zeigt sich deutlich, dass ein bedarfsgerechtes und an individuelle und kollektive Krisen anpassungsfähiges Leistungsangebot der Kinder- und Jugendhilfe nicht bereitgestanden hat und auch aktuell nicht bereitsteht. Daher rückt genau jetzt der laufende Novellierungsprozess des SGB VIII in den Blick. Ver.di hat sich in den zurückliegenden Jahren bereits intensiv am Diskussionsprozess beteiligt und Positionen formuliert, die auch in den aktuellen Entwürfen fehlen.

Wir haben mit dem SGB VIII und dem diesem zugrundeliegenden Ansatz der Lebensweltorientierung eine gute gesetzliche und pädagogische Grundlage für die Kinder- und Jugendhilfe. Das Gesetz wurde jedoch nur in Teilen realisiert und in seinen rechtlichen und pädagogischen Möglichkeiten nie ausgeschöpft – ein Vollzugsdefizit ist nicht zu leugnen. Insbesondere die §§ 79/80, in denen die Kommune zu einem Planungsverfahren verpflichtet ist, welches ein bedarfsgerechtes Angebot an Leistungen begründet, muss in den Blick genommen werden.

Sind im Lockdown die Bedarfe genauso zurückgegangen wie das Leistungsangebot? Wohl kaum. Aus unserer Sicht sind die jüngsten Erfahrungen eine deutliche Mahnung endlich flächendeckend eine qualifizierte Jugendhilfeplanung zu leisten, der ein fundiertes Berichtswesen vorausgehen muss.

Die Frage die sich heute stellt ist nicht neu: Wie kann es gelingen, die Kinder- und Jugendhilfe so auszustatten und mit Ressourcen zu hinterlegen, dass Kinder, Jugendliche, Eltern und Sorgeberechtigte ein gutes Leistungsangebot und Beschäftigte gute Arbeitsbedingungen vorfinden? Wenn sich der politische Gestaltungswille in diese Richtung lenkt, kann dem Fachkräftemangel mit attraktiven Arbeitsplätzen zu Leibe gerückt werden. Eine Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Ausbildung und ihrer Vergütung bei gleichzeitiger Aufstockung der Ressourcen in den Berufsfach- und Fachschulen, den Hochschulen und den Universitäten sind weitere wichtige Schritte.

Die Zeichen, die wir aus der Politik wahrnehmen, weisen allerdings aktuell in eine andere Richtung. Wenn den Beschäftigten, wie jetzt in der aktuellen Tarifrunde, die Anerkennung in Form einer angemessenen Entgeltentwicklung verwehrt wird und gleichzeitig in landesrechtlichen Vorschriften die Aufweichung des Fachkräftegebotes vorangetrieben wird, wenn Fallarbeit schematisiert oder sozialpädagogische Aufgaben an Medizin oder Justiz delegiert werden, da sind wir auf einer rasanten Reise in die Vergangenheit und nähern uns in großen Schritten wieder einer obrigkeitsstaatlichen Jugendwohlfahrt.

Kinder- und Jugendhilfe realisiert Grundrechte, Kinderrechte. Hessel zitierend bleibt zu sagen: ‚Empört euch!‘ Und aus der Sicht der Gewerkschaft für die Soziale Arbeit: Organisiert euch!‘

 

Zitiervorschlag: Wegner, Alexander (2020): Corona-Pandemie – die Kinder- und Jugendhilfe im Stresstest – eine gewerkschaftliche Zwischenbilanz. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34744

An den Anfang scrollen