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Corona, die crisis of care und der neue Nationalismus?

Wir möchten in diesem Beitrag dafür plädieren, dass das national(istisch) formierte Soziale kein neues Phänomen ist. Dies skizzieren wir am Beispiel gesellschaftlicher Aufgabenteilung im Bereich der Sorge-Arbeiten, also z.B. der Erziehung, der Selbstsorge, der Pflege von Kranken. Grundlegende These ist, dass die vermeintlich privaten Beziehungskonstellationen und im Sorge-Bereich angesiedelten Tätigkeiten durch vergeschlechtlichte, rassistische und kapitalistische Strukturierung formiert werden. Der Nationalstaat ist dabei unauflöslich mit den vergeschlechtlichten, rassistischen und kapitalistischen Verhältnissen verwoben.

Die durch die Pandemie vermehrt zu Tage tretenden Folgen der „crisis of care“ (Fraser 2016) werden zwar regelmäßig thematisiert und skandalisiert, bleiben jedoch unbeantwortet oder kurzfristig vertröstet (vgl. beispielsweise die Corona-Prämie für Pflege-Beschäftigte), nicht aber nachhaltig politisch adressiert. Aktivist*innen wie Wissenschaftler*innen aus den Gender Studies, der Sozialen Arbeit, der Rassismusforschung, der Care Revolution etc. kritisieren dem gegenüber regelmäßig, dass die Personengruppen, die unter der „Krise der sozialen Reproduktion“ (Winker 2015) am meisten leiden, weil sie primär von den Folgen der Krise betroffen sind, üblicherweise migrantisch und weiblich sind.

Die an uns gerichtete Frage nach dem Neuen Nationalismus im Sozialen, stellt sich unserer Meinung nach vor diesem Hintergrund nicht. Als bedeutsam gerade mit Blick auf die Corona-Pandemie erachten wir hingegen die Frage, wen die Nation repräsentiert. Mit Repräsentation zielen wir dabei auf den Aspekt des Wahrnehmens im Sinne der Vertreterin postkolonialer Theorie Gayatri Chakravorty Spivak (1988). Welche Personen in bezahlter wie unbezahlter Care-Arbeit werden im Rahmen der Corona-Krise als systemrelevant wahrgenommen, aber nicht gehört, wenn sie die prekären Arbeits- und Lohnbedingungen thematisieren und konkrete Änderungen einfordern? Zwar dürfen sie ihren Protest formulieren, werden aber nicht sicht- und hörbar als relevante Akteur*innen im hegemonialen Diskurs. Das liegt unter anderem auch daran, dass in vielen Bereichen der Care-Arbeit insbesondere migrantische Arbeiter*innen tätig sind und sich damit die Sorge-Arbeit mit den rassistischen Strukturen des Nationalen verknüpft.

Familienministerin Franziska Giffey beispielsweise betont in der im Kontext der Pandemie geführten Care-Debatte die Belastungen, denen insbesondere Frauen aufgrund von Kita- und Schulschließungen sowie den Anforderungen durch Home-Schooling und Kontaktbeschränkung ausgesetzt sind. Dabei wird deutlich, dass die politische Thematisierung von Geschlechter-Verhältnissen nicht die Verstärkung durch Verwobenheiten mit Klassenlage und Rassismus in der Migrationsgesellschaft mitdenkt.

Gender Mainstreaming-Strategien und die Einbindung von Frauen in (möglichst Voll-) Erwerbstätigkeit adressieren weiße Frauen der Mittelschicht. Migrantische Frauen sowie Frauen aus nicht-privilegierten Klassenlagen sind sowohl in Reproduktions- als auch Produktionsarbeiten seit jeher in Erwerbstätigkeit eingebunden, werden aber im Sinne der Repräsentationsfrage nicht wahrgenommen, nicht gesehen, nicht gehört.

Die Angleichung aller weiblichen Biographien an einen androzentrischen Lebenslauf hat dabei insbesondere mit Blick auf klassistische und rassistische Ausbeutung problematische Konsequenzen. Sie unterminiert die Bedeutung und Notwendigkeit sozialer Reproduktion für Gesellschaft wie für Individuen. Als Lösung der Vereinbarkeitsproblematik werden zahlreiche Care-Tätigkeiten ausgelagert, entweder an migrantische oder sozial nicht-privilegierte Frauen, beispielsweise in Pflege oder Reinigungsdiensten.

Und – um Gabriele Winker zu zitieren – „diese Jobs sollen vor allem eins sein: billig“ (https://www.sueddeutsche.de/leben/corona-systemrelevant-care-arbeit-1.4852560).

Die Aufarbeitung des Nationalen im Sozialen ist nicht im Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit, sondern wird höchstens wissenschaftlich (Balibar/Wallerstein 1988: 100f.) und aktivistisch betrieben. Mit Fatima El-Tayeb wäre zu überlegen, welche Rolle ein internalistisches Narrativ (El-Tayeb 2016: 39) spielt, welches sich selbst als „frei von Übeln – seien es Rassismus, Armut oder Homophobie – die den Rest der Welt plagen“ (ebd.) versteht.

Eine politische Debatte zu prekären Lebenslagen migrantischer Care-Arbeiter*innen bleibt aus. Im Gegenteil fordert Gesundheitsminister Spahn die Anwerbung von Pfleger*innen, z.B. aus Mexiko, wollen deutsche Personen diese Arbeiten doch in Zeiten von Profitorientierung und Warenlogik nicht übernehmen, vor allem nicht zu den derzeitigen Lohnbedingungen. Deutschland wird hierbei zum globalen Arbeitsmarkt, wohlweislich ausnutzend, dass das Lohnniveau in den Anwerbeländern noch geringer ist als die prekäre Bezahlung der Care-Tätigkeiten und ausblendend, dass die Care-Arbeitenden in ihren Herkunftsländern ebenfalls für bezahlte wie unbezahlte Care-Tätigkeiten benötigt werden.

Die vermeintliche Globalisierung des Arbeitsmarktes durch die „global care chains“ (Hochschild 2000) kann daher eher als globale Ausbeutung (neo-)kolonialen Ausmaßes verstanden werden, in dem der Deckmantel der Globalisierung über den eben nicht so neuen Nationalismus ausgebreitet werden soll, um das Soziale aufrecht zu erhalten.

 

Literatur:

  • Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel (1988): Race, Nation, Class: Ambiguous Identities. London/New York: Verso.
  • El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
  • Fraser, Nancy (2016): Contradictions of Capital and Care. New Left Review 100: 99-117.
  • Hochschild, Arlie R. (2000): Global Care Chains and Emotional Surplus Value. In Hutton, Will/Giddens, Anthony (Hg.): On The Edge: Living with Global Capitalism. London: Jonathan Cape: 130-146.
  • Spivak, Gayatri Chakravorty (1988) Can the subaltern speak? In: Nelson, Cary/Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press: 271-313.
  • Winker, Gabriele: Care Revolution: Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

 

Zitiervorschlag:

Hahmann, Julia & Hunner-Kreisel, Christine (2020): Corona, die crisis of care und der neue Nationalismus? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34190

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