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Care und Corona. Was haben Care und Corona gemeinsam?

Care und Corona (be)treffen uns alle gleichermaßen. Das stimmt und stimmt nicht: Für Care stimmt es insofern, als dass wir alle aufgrund unserer Verletzlichkeit der Sorge bedürfen und alle zur Sorge für andere fähig sind – so die Philosophin Martha Nussbaum. Für Corona stimmt es insofern, als dass das Virus uns alle treffen kann. Es stimmt gleichzeitig aber auch nicht. So ist Care zwar etwas, das wir alle brauchen, sei es zu Beginn unseres Lebens, bei Krankheiten und Beeinträchtigungen oder am Ende unseres Lebens, vielfach auch für einen gelingenden Alltag über unsere Lebensdauer hinweg, aber keineswegs sind alle Menschen aktiv Sorgende. Das Sorgen haben wir in unserer Gesellschaft abgegeben – vor allem an Frauen als Mütter, als ehrenamtlich Helfende oder in sogenannt „weiblichen“, schlecht bezahlten Berufen (Die mit dieser Konnotierung einhergehende geringe Wertschätzung und Bezahlung trifft ebenso dort tätige Männer). Auch für das Virus stimmt die Gleichbetroffenheit nicht: zum einen medizinisch, da es vor allem alte und vorerkrankte Menschen lebensgefährdend trifft und zum anderen, da es sich vor allem bei Menschen in engen Lebensverhältnissen ausbreitet, besonders in Alters- und Pflegeheimen und in Gemeinschaftsunterkünften.

Care und Corona verweisen auf unsere Bedürftigkeit und auf unsere Sterblichkeit; das ängstigt. Wie gehen wir damit um und welche Aufgaben erwachsen daraus? Eine Möglichkeit ist, diese Verunsicherungen zu leugnen: Wir brauchen niemanden und sind unverwundbar. So könnte man meinen, wenn wir unser (männlich konnotiertes) Streben nach Autonomie als Krönung individueller Entwicklung ansehen. Solches Denken ist kontraindiziert, weil unser aller Überleben an die hinreichende Sorge für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geknüpft ist und somit Menschen aller Alters-, Geschlechts-, Nationalitäts- und Ethnien-Zugehörigkeiten umfasst. Das könnte man auch meinen, wenn wir die Leugnungsmanöver der Gefährlichkeit von Corona über politische Lager hinweg oder die Sorglosigkeit mancher Gruppen gegenüber dem Virus anschauen. Das heißt, Care und Corona können uns nachdenklich machen über die Werteskala in unserem individuellen und kollektiven Leben, über unseren Umgang miteinander und unsere Erwartungen aneinander – lokal, national und international.

Wie hat Corona Care verändert?

Care wurde über Nacht „systemrelevant“ und hat – für wie lange? – die Systemrelevanz von Banken und Autoindustrie überholt. Letztere wurde – mit einer unser aller Wohlstand betreffenden Logik – als „too big to fail“ angesehen. Weshalb war Care bisher nicht „too big to fail“? Während Banken und Autowirtschaft zusammenbrechen, wenn sie sich ökonomisch nicht rentieren, wird Sorgen in wechselnden Kombinationen und oftmals durch unbezahlte Tätigkeit in Familien, in der Zivilgesellschaft und als unterbezahlte Beschäftigung in beruflichen Feldern aufrechterhalten – zu unser aller Wohl, über das wir als Gesellschaft außer in Sonntagsreden und durch öffentliches Klatschen wenig nachdenken. Dabei ist diese Art des Sorgens bis heute das verborgene Herzstück unseres Sozialstaates und trägt uns bisher – bezogen auf unsere Versorgung – glimpflich durch die Corona-Krise.

Wir können zufrieden sein, dass es in Deutschland durch den Einsatz vieler Menschen in krisenbedingt zentralen Berufen (von Staatsbediensteten in Krisenfunktionen über Pflegekräfte bis zu Kassiererinnen) und vorausschauende Organisation gelungen ist, die Corona-Krise vorerst bewältigbar zu halten. Basis waren und sind insgesamt ausgewogene staatliche Maßnahmen und eine sich im Wesentlichen an die Einschränkungen haltende Bevölkerung; darüber bin ich froh. Zumal als altersbedingt Angehörige der „Risikogruppe“ – einem Status, der gewöhnungsbedürftig und verunsichernd ist und für mich die vorher gestellten Fragen aufwirft: Leugnen oder Standhalten? – in Abwandlung des berühmten Buchtitels von Horst Eberhard Richter „Flüchten oder Standhalten“. Care und Corona werfen also nicht zuletzt Fragen der Selbstsorge auf, ob als Sorgende oder Nichtsorgende aber auch als Versorgte: Mit welchem Recht und welchen Folgen wird pflegebedürftigen Menschen vorgeschrieben, ob und wie oft sie in ihrer letzten Lebensphase ihnen nahestehende Menschen sehen dürfen – ohne zunächst alles dafür zu tun, dass sie darüber doch zumindest mitentscheiden können?

Auch die Sorge um Kinder und Jugendliche erhielt bisher keine Priorität, sondern wurde mit den bekannten Retraditionalisierungs- und Überlastungsfolgen und den Risiken zunehmender häuslicher Gewalt und Kindeswohlgefährdung in die Familien zurückverwiesen. Kinder und Jugendliche unter hinreichendem Schutz ihrer Gesundheit in Jugendhilfeeinrichtungen zu betreuen, auf Spielplätzen spielen und Kitas und Schulen besuchen zu lassen, ist vielleicht aufwendiger, logistisch schwieriger und mindestens ebenso teuer wie die Arbeitsplätze-sichernde-Unterstützung der Wirtschaft, Öffnung von Läden und Lokalen. Aber ist Fürsorge für Kinder und Jugendliche in unserer infrastrukturell hochentwickelten und reichen Gesellschaft mit kreativen Maßnahmen nicht sozial verträglicher und kindgerechter zu leisten? Dafür bräuchte es neben neuen Ideen und Organisationsstrukturen, mehr bezahltes und ehrenamtliches Personal und die Nutzung neuer auch äußerer Räume, was gerade in dieser Jahreszeit gut machbar ist.

Corona hat neben allen Belastungen neue Solidaritätsformen durch Stärkung von Nachbarschaften und kreative Formen gegenseitiger Unterstützung aufgezeigt aber auch gesellschaftliche Spaltungen und politische Entfremdungen von demokratischen Strukturen und Regierungsweisen vertieft. Was in nächster Zeit die Oberhand gewinnt, Solidarisierungen oder Entdemokratisierungen, wird über die Lebensqualität überall auf der Welt entscheiden.

Zitiervorschlag: Brückner, Margrit (2020): Care und Corona. Was haben Care und Corona gemeinsam? In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33918

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