Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind aufgrund ihrer strukturellen Bedingtheit in allen Lebensbereichen und quer über den Globus als unumgängliches Erleben, in ihren verschiedenen Facetten, allgegenwärtig und bislang zumindest gesellschaftlich kaum aufzulösen. Mit Perspektive auf die unterschiedlichen Ebenen (etwa Bronfenbrenner 1978) wirkt sich die Pandemie auf einzelne Menschen aber eben auch auf Institutionen, Organisationen und Gesellschaftsmodelle aus und stellt dabei die jeweiligen Systeme und ihre Funktionalität selbst in Frage. Gleichwohl sind die Auswirkungen auch in den verschiedensten Bereichen wie etwa den Gesundheits- oder Wohlfahrtssystemen, dem Bildungssektor, der Politik, der Justiz, der Ökonomie oder den Finanzmärkten deutlich zu erkennen. Die Corona-Pandemie ist so also streng genommen ein Konglomerat von unterschiedlichsten Krisen, mit einem auch als Katalysator auf bereits bestehende Krisen wirkenden, krisenhaften Ausgangsereignis. Die so verstärkten, aber auch neu entstehenden Krisen liegen quer zu den verschiedenen Bereichen und multiplizieren sich darüber in ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Das heißt, dass gleichzeitig multiple bereits vor Corona bestehende Krisen sich verstärken, aber auch neue Krisen entstehen, welche sowohl von den unterschiedlichen Bereichen (etwa dem Gesundheitssystem), Organisationen (etwa Krankenhäuser, Kindertagesstätten), Institutionen (etwa Familie) aber auch Individuen selber bewältigt werden müssen, wobei die entsprechenden Bewältigungshandlungen (Besuchsverbot der KiTa, Schulschließung) Krisen hervorrufen können, welche wiederrum auf den verschiedenen Ebene bewältigt werden müssen. Die aktuelle Entwicklung können dabei auf den gemeinsamen Ausgangspunkt einer Gefahr über die (drohenden) Infektion mit einem Virus und der daran anschließenden Erkrankung sowie der Bewältigung dessen zurückgeführt werden. So sind strukturell selbst all jene von den Corona-Krisen betroffen, die die Krankheit leugnen, verharmlosen oder auch (bislang) gesund geblieben sind oder von einer Infektion weit entfernt scheinen.
Die zwingende kollektive Bewältigung von Corona-Krisen ist in ihrer unausweichlichen Tatsächlichkeit damit eine unumgängliche Erfahrung von Individuen, Institutionen und Gesellschaften – Erfahrungen, welche sich in den jeweiligen (kulturellen) Gedächtnissen einbrennen werden, wobei die zu bewältigenden Krisen und kollektivierten Erfahrungen des Erfolges und des Misserfolges kaum unterschiedlicher sein könnten. (Lebensweltliche) Krisen sind so zu bewältigende Aufgaben, für die noch keine funktionalen Routinen bestehen und wenn entsprechende Routinen gefunden werden, bleibt offen, für welche der widerläufigen Aufgaben und zwingenden Priorisierungen die entsprechende Funktionalität gilt. Es geht dabei im Zurückgeworfensein auf die Gegenwart nun verstärkt darum, elementare Zielsetzungen zu bewältigen, eben um diese Corona-Krisen-Zeit zu überstehen. Neben den Krisen sind es aber auch die Routinen des Alltags, die zu bewältigen sind und bleiben, wobei, einmal mehr als unumgängliche Erfahrung, mögliche Bewältigungshandlungen ehemaliger Routinen keine Gültigkeit mehr besitzen. Insbesondere die subjektiven Alltagswelten der Menschen müssen so von heute auf morgen in ihrer Krisenhaftigkeit neu bewältigt werden, da bewährte lebensweltlichen Routinen in Zeiten von Corona in Frage gestellt, ja zumeist obsolet geworden sind und gleichzeitig die Bewältigungsreaktionen von Institutionen, Organisationen und Gesellschaft bewältigt werden müssen.
Insbesondere auf dieser lebensweltlichen Ebene wirken sich die verschiedenen Ausprägungen der Krisen als individuelle Bewältigungsthemen aus: Armut, drohende Arbeitslosigkeit oder mehr Arbeit, Kurzarbeit, finanzielle Sorgen, Doing Family, soziales Handeln, Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, Beziehung(-en), Freundschaften, körperliche Bedürfnisse wie Sexualität oder Nähe, unterschiedliche Beziehungsformen wie Polyamorie, Patchwork Familien, der Alltag als/mit Wechselkind(-ern), Medienkompetenzen/ -ausstattung, Kontaktbeschränkungen, selbstgewählte/fremdbestimmte Isolation (Quarantäne), Gesundheitsvorsorge, physische oder psychische Erkrankungen, Schulängste oder bestehende schulische Probleme, Umgang mit Risikogruppen, Behinderungen oder besonderen Förderbedürfnissen, mit sich verändernden Regeln und Normen umgehen müssen, Zeit, Raum, … jedes dieser Themen, deren Aufzählung nur einen Eindruck der Komplexität und Vielschichtigkeit vermitteln kann, ist als Bewältigungsproblem von vielen Faktoren abhängig, damit individuell gelagert und kaum allgemeingültig zu bestimmen. Mit Blick auf die Alltagswelt von Menschen etwa, wenn Homeschooling vs. Home-Office vs. KiTa Ersatzzeiten um Wohnraum, Tageszeiten und unterschiedlichen Erschöpfungsgraden verschiedener Familienangehöriger konkurrieren müssen und im Alltag von allen Beteiligten Ressourcen aufzubringen sind, die unterschiedlichen Aufgaben zu bewältigen. Dass die Bewältigung von Alltag hier für eine Familie in einem unter Quarantäne stehenden Hochhauskomplex andere Fertigkeiten, Ressourcen und möglicherweise institutionalisierte Unterstützungsmöglichkeiten benötigt als die Quarantäne im Einfamilienhaus mit Garten, ist naheliegend.
Menschen, die über ausreichend Ressourcen und Bewältigungsfertigkeiten verfügen, wird es leichter gelingen sich auf die neuen Gegebenheiten einstellen zu können. Menschen, die in prekären Bewältigungswelten (Böhnisch & Schröer 2013: 25) oder nicht selbst zu steuernden Bewältigungsdynamiken verstrickt sind, geraten noch stärker unter Druck, als sie es ohnehin schon gewesen sind. Auch kommen immer neue Bewältigungsaufgaben bei weniger zur Verfügung stehenden Bewältigungsfertigkeiten und -ressourcen hinzu und entwickeln sich zu konkreten Problemlagen. Die ohnehin bestehende soziale Spaltung verstärkt sich so durch die Ungleichverteilung von Fertigkeiten, Ressourcen und Bewältigungsaufgaben weiter.
Hastig eingeführte bzw. angepasste sozialpolitische Steuerungsinstrumente, die zumindest die Möglichkeit besitzen könnten, Krisen abzufedern, bleiben dabei zu oft hinter der Komplexität der Lebenswelt und den Bewältigungsaufgaben insbesondere von bereits marginalisierten oder auch besonders belasteten Personengruppen zurück. Die sozialpolitischen Hilfen und Entscheidungen scheinen sich dabei an ökonomischen Interessen oder, besonders bedeutsam für Kinder und Jugendliche, kaum noch aktuellen Familienleitbildern, hingegen weniger an der Lebenswelt der Menschen zu orientieren. Aber auch die Entlastungs- und Unterstützungsmöglichkeiten durch personenbezogene Dienstleistungen, beginnend bei Betreuungs- und Bildungsinstitutionen für Kinder und Jugendliche, sind in sich nicht durchgängig handlungsfähig – zumal die dort arbeitenden Fachkräfte selbst Corona-Krisen bewältigen müssen.
Soziale Arbeit ist die „gesellschaftlich institutionalisierte Reaktionen auf typische psychosoziale Bewältigungsprobleme in der Folge gesellschaftlich bedingter sozialer Desintegration“ (Böhnisch 2012: 219) und bereits in ihrer Struktur mit sozialen Problemen konfrontiert (Maurer & Schröer 2016). Corona bedingte Krisen sind als Bewältigungstatsache (Böhnisch 2012) demnach kritische Lebensereignisse, die potenziell als sozialstrukturelle Integrations- und Integritätsprobleme verstanden werden können. Mit dem einerseits weitgehenden zum Erliegen kommen des sozialen Lebens, oder andererseits auch dem Zwang – in allen Gefährdungssituationen – weiter an ihm teilnehmen zu müssen, führt zu einer Ausweitung von sozialen Problemen und sozialer Desintegration. Es ist naheliegend, dass die Soziale Arbeit mehr als andere Professionen mit der Bewältigung der Corona-Krisen konfrontiert sein und beauftragt wird. Auch wenn die Auflösung der Pandemie über die Ausrottung eines Virus sicherlich weniger zu ihren Aufgaben zählt, so ist doch eine zentrale Aufgaben von Sozialer Arbeit, die sozialen Folgen der Krisen und ihrer Bewältigung zu prognostizieren und Unterstützungsmöglichkeiten für eine gelingende Bewältigung zu entwickeln. Welche Folgen die weitere Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die »gut« durch die Krisen kommen und Menschen, die an ihrer Grenze stehen oder bereits drüber hinaus sind, mit sich bringt, wird sich erst in der Zukunft zeigen. Die Krisen werfen so Fragen nach unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und ihren Verständnissen von einer gerechten Lastenverteilung, von Ressourcen, Routinen oder Krisen, aber auch nach möglichen Kategorien (Verstorbene, Übersterblichkeit, Infektionen, wirtschaftliche Erholung, Zahl von Kindeswohlgefährdungen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, …) für eine retrospektiv erfolgreich einzuschätzende Bewältigung der aktuellen Corona-Krisen auf.
Literatur
Böhnisch, Lothar (2012): Lebensbewältigung. In: Thole, Werner (Hrsg.) (2012): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden, S. 219-233.
Böhnisch, Lothar; Schröer, Wolfgang. (2013): Soziale Arbeit – eine problemorientierte Einführung. Bad Heilbrunn.
Bronfenbrenner, Uri (1978): Ansätze zu einer experimentellen Ökologie menschlicher Entwicklung. In: Oerter, Rolf (Hrsg.): Entwicklung als lebenslanger Prozeß. Hamburg: Hoffmann Campe, S. 33–65.
Maurer, Susanne.; Schröer, Wolfgang. (2018): Geschichte sozialpädagogischer Ideen. In: Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans; Treptow, Rainer; Ziegler, Holger (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 6., überarbeitete Auflage. München; Basel, S. 540-550.
Zitiervorschlag: Engelbracht, Mischa (2020): Bewältigungstatsache Corona-Krisen. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34150
Akademische*r Rat*Rätin als Leiter*in des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik an der Universität Erfurt
Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfeforschung, Professionalität, professionelles Handeln und Fallverstehen in der Sozialpädagogik sowie Didaktik der Sozialpädagogik
Kontakt: Mischa.engelbracht@uni-erfurt.de