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Alter und Corona: eine gesellschaftlich denkwürdige Debatte

Ältere Menschen stehen im Rahmen der Covid-19-Pandemie im besonderen Blick der Öffentlichkeit. Sie werden unter Generalverdacht gestellt eine besonders vulnerable Gruppe zu sein, für die eine COVID-19-Erkrankung sehr gefährlich ist. Das chronologische Alter wird so zur Definition einer Risikogruppe aufgrund von Annahmen eines geschwächten Gesundheitszustands. Dies vernachlässigt die sehr unterschiedlichen Lebenslagen der Altenpopulation, die auch hinsichtlich des Gesundheitszustandes erheblich variieren. Solche Pauschalisierungen tragen das Potential des ageism, der Altersdiskriminierung sowie der möglichen Förderung eines Paternalismus durch das Bild von alten Menschen als Schwache und zu Beschützende. Denn selbst die Hälfte der 75- bis 84-Jährigen verfügt noch über eine sehr gute funktionale Gesundheit (Tesch-Römer u.a. 2020).

Der Konstruktion der Alten als besonders vulnerable Gruppe folgend gilt die Kontaktsperre für ältere Menschen mit Nachdruck. Alte Menschen werden dazu aufgerufen, soziale Kontakte soweit wie möglich, am besten ganz zu vermeiden. Zu welch drastischen Maßnahmen dies geführt hat, wird u.a. in der stationären Altenpflege deutlich. Besuchsverbote bzw. -beschränkungen wurden verhängt genauso wie Ausgangsperren für die Bewohner*innen. Auch unter den Bewohner*innen wurden Kontakte begrenzt; teilweise wurden die Bewohner*innen aufgefordert, ihr Zimmer gar nicht zu verlassen (BAGSO 2020). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) erklärt, dass diese Regelungen „mit Abstand die schwersten Grundrechtseingriffe in der gesamten Corona-Situation darstellen“ (ebd., S. 2). Viele Studien belegen die Bedeutung des sozialen Kontaktes für das subjektive Wohlergehen und die Vermeidung von depressiven Symptomatiken im Alter. Mangelnder sozialer Kontakt kann erhebliche negative gesundheitliche Folgen haben (Huxhold, Fiori & Windsor 2013).

In dieser von der besonderen Gefährdungslage älterer Menschen dominierten Diskussion geraten andere, höchst entscheidende Fragen des Alter(n)s unter Covid-19 weitgehend in Vergessenheit. Hierzu gehören die 2,6 Millionen pflegebedürftigen älteren Menschen in Deutschland, die überwiegend von ihren Angehörigen zuhause gepflegt und versorgt werden. Auf die erheblichen Problematiken der häuslichen Pflege und die hohen Belastungen von pflegenden Angehörigen wurde vielfach hingewiesen. Um Einblicke in die Veränderung der häuslichen Pflege unter Covid-19 und die Auswirkungen auf die Angehörigen und die Pflegebedürftigen zu gewinnen, führen wir derzeit eine Studie an der Universität Mainz durch. Hierzu wurden 330 pflegende Angehörige im Rahmen einer Online-Umfrage befragt. Parallel dazu werden Daten mittels leitfadengestützter Interviews mit pflegenden Angehörigen erhoben.

Zu den zentralen Ergebnissen gehört, dass 52% der Befragten die Pflege ihrer Angehörigen belastender als vor dem Ausbruch von Covid-19 empfinden. 38% fühlen sich in der derzeitigen Pflegesituation überfordert und 60,4% stimmen der Aussage zu, dass die Pflege seit Beginn der Covid-19-Krise mehr von ihrer Kraft als pflegende/r Angehörige kostet als zuvor. Zudem hat die Covid-19-Krise verstärkt zu Spannungen zwischen den pflegenden Angehörigen und den Pflegebedürftigen geführt. Ein Drittel der Befragten gibt an, dass es unter Covid-19 häufiger zu Konflikten gekommen sei.

Auch bezüglich der Folgen von Covid-19 für die Gesundheit der Pflegebedürftigen kommt die Studie zu Besorgnis erregenden Ergebnissen. 46,6% der Befragten geben an, dass sich die Covid-19-Krise negativ auf den Gesundheitszustand der pflegebedürftigen Person ausgewirkt habe. Hierzu dürfte beigetragen haben, dass oftmals auf wichtige Arzttermine (60,6%) und notwendige Krankenhausaufenthalt (30%) verzichtet wurde. Fast ein Drittel (32%) gibt zudem an, dass es zumindest vorübergehend zu Unregelmäßigkeiten bei wichtigen Pflegetätigkeiten gekommen sei. Schließlich haben 71% der Befragten eine Zunahme von Einsamkeit und/oder depressiven Verstimmungen bei der pflegebedürftigen Person wahrgenommen. Letzteres dürfte im engen Zusammenhang mit der angesprochenen sozialen Isolation von älteren Menschen stehen. So sagen 85% der Befragten, dass Besuche von Verwandten, Bekannten oder Freund*innen bei der pflegebedürftigen Person aufgrund von Covid-19 eingeschränkt wurden. 43% haben zudem selbst den Kontakt mit der pflegebedürftigen Person eingeschränkt.

Unsere qualitativen Daten geben Aufschluss über die Herausforderungen, mit denen Haushalte konfrontiert sind, in denen eine migrantische Pflegekraft angestellt ist. Solche Pflegearrangements mit überwiegend irregulär angestellten Pflegekräften aus dem Ausland, die in mehrwöchentlichen Abständen zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland pendeln und im Haushalt der Pflegebedürftigen wohnen, sind zu einer höchst bedeutenden Säule im Pflegesystem in Deutschland geworden. Die vielfach geäußerten Vermutungen, dass aufgrund von Grenzschließungen während der Covid-19-Pandemie weitgehend auf migrantische Pflegearbeiterinnen verzichtet werden muss, belegen unsere Daten nicht. In Haushalten aber, die vorübergehend auf die migrantischen Pflegekräfte verzichten mussten, wurden erhebliche Umorganisationen der Pflege erforderlich – meist zu Lasten von Angehörigen und mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Eine unserer Interviewpartner*innen, deren pflegebedürftige Angehörige vorübergehend von einem anderen Familienmitglied mehr oder wenig notgedrungen gepflegt wurde, resümiert: „Da hat es richtig gekracht.“

Unsere Ergebnisse, aber auch die derzeitige Situation in der stationären Pflege verweisen darauf, dass die ohnehin prekäre Pflege von alten Menschen unter Covid-19 weitere Zuspitzungen erfährt. Die als vulnerable Gruppe identifizierten Alten soll geschützt werden; de facto erweisen sich die ergriffenen bzw. nicht ergriffenen Maßnahmen als folgenschwer.

Ein Wort zum Schluss: Hohe Belastungen von pflegenden Angehörigen wurden als ein wichtiger Faktor für Gewalt in der Pflege identifiziert. Die Zunahme von Belastungen unter Covid-19 sind entsprechend beunruhigend. Im Gegensatz zur Thematisierung der möglichen Auswirkungen der Covid-19-Krise auf Gewalt gegenüber Kindern und Frauen, bleibt dieses Thema bzgl. der Altenpopulation bisher unberücksichtigt.

 

Literatur

BAGSO (Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen) (2020): Stellungnahme.  Soziale Isolation von Menschen in Pflegeheimen beenden! Verfügbar unter: https://www.bagso.de.

Huxhold, O., Fiori, K. L., & Windsor, T. D. (2013). The dynamic interplay of social network characteristics, subjective well-being and health: The costs and benefits of socio-emotional selectivity. Psychology and Aging, 28(1), 3-16.

Tesch-Römer, C., Vogel, C., Wettstein, M., Spuling, S.M. (2020): Alte Menschen sind unterschiedlich, auch in der Corona-Krise. Deutsches Zentrum für Altersfragen. Verfügbar unter:  https://www.dza.de.

 

Zitiervorschlag: Horn, Vincent & Schweppe, Cornelia (2020): Alter und Corona: eine gesellschaftlich denkwürdige Debatte. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/34648

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